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Wüsten der Unwirklichkeit

Schon vor langer Zeit gab ich den Wunsch auf, die Wirklichkeit zu verstehen, zu messen, zu quantifizieren oder vorherzusagen, was die Welt ist und wie sie sein wird.

Wissenschaft und Technik garantieren aber genau das: Mit jeder Neuentdeckung, mit jeder Innovation schärft sich unser Blick auf die Welt, rückt die Welt in den Fokus. Doch während die Wirklichkeit an Klarheit gewinnt, erscheint etwas anderes in ihrem Schatten und fordert unsere Aufmerksamkeit, obwohl der strahlende Schein der Realität es gleichzeitig verdunkelt. Es ist das Irreale, die Unwirklichkeit – das, was sich jenseits des Erwarteten verortet und bewusst vage bleibt. Das Irreale existiert neben dem Realen als Versprechen auf das Andere.

Das Irreale ist ausgestellt im International UFO Museum and Research Center in Roswell, New Mexico. Ich gönnte mir den halbtägigen Umweg auf meiner Reise von Kalifornien nach New York, um die abgelegene, staubige Stadt zu erkunden, die 1947 wegen eines Ufo-Absturzes und der Begegnung mit Außerirdischen berühmt wurde. Ich hatte keine Ahnung, was mich erwarten würde. Mich interessierte vor allem, wie das Museum das Reale und das Unwirkliche – also das, was wir kennen, und das, was wir nie wissen werden – im Gleichgewicht hält.

Mein Museumsbesuch folgte auf ein Sabbatjahr, das ich in Los Angeles, der Hauptstadt des Unwirklichen, verbracht hatte. Los Angeles ist eine endlose Lektion im fluiden Wechselspiel von Irrealität und Realität. Die Wüstenstadt würde es gar nicht geben, hätten der ewige Sonnenschein und das milde Klima nicht in den 1910er-Jahren die Filmemacher*innen an der Ostküste überzeugt, dass sich ihre Branche auch im Westen niederlassen könnte. Wenige Dekaden später entstand Disneyland und inspiriert seitdem zahllose Denker*innen zu Betrachtungen über das Hyperreale. 2018, während meines Sabbatjahres im Land der Unwirklichkeit, belegte ich Wahlkurse zum Thema Hollywood und Themenparks, doch der Hauptfokus meines Studiums lag auf der Virtual Reality (VR) und der Community der Geschichtenerzähler*innen und Innovator*innen, die sich in Los Angeles versammelt hatten, um die Technologie des 20. Jahrhunderts für das neue Millennium zu aktualisieren.

VR ist nicht zuletzt reizvoll, weil man damit die Möglichkeit geboten bekommt, digitale Abenteuer realer als real zu erleben: Du springst ins Meer und schwimmst neben Blauwalen, du schwebst schwerelos durch eine psychedelische Unendlichkeit. Mich lockte die Technik vor allem, weil ich mir vorstellte, dass man sich als User*in beim Eintauchen in eine virtuelle Realität in das reale Erleben oder sogar in den Körper eines anderen Menschen versetzen könnte.

 

 

VR bot das Versprechen, überall und jedermann zu sein – eine radikale Transparenz des Seins, die Zugang zu allen Weltanschauungen ermöglicht.

Könnte eine solche Technik uns der Wahrheit näherbringen, die wir da draußen zu verorten meinen?

Das UFO Museum in Roswell dokumentiert so extensiv wie möglich den Absturz von 1947. Ein gerahmtes Archivbild ziert die Wände im Hauptraum des Museums. Es würde Stunden dauern, wollte man alle Details lesen und erkunden. Im schwachen Bemühen um Neutralität, damit alle Besucher*innen ihre eigenen Schlussfolgerungen ziehen können, wird präsentiert, ohne zu kuratieren oder zu kommentieren. „Was geschah wirklich?“, lautet ein Text, der den Betrachter*innen Hilfestellung geben soll. Und weiter: „Entscheiden Sie selbst!“

Das Museum (und das angeschlossene Forschungszentrum, das sich mit Ufos und Kontakten zu Aliens über die Ereignisse von Roswell hinaus befasst) geht davon aus, dass das umfänglich informierte Individuum selbst etwas so Irreales wie den Absturz eines Ufos begreifen kann. Jedes Phänomen lässt sich erfassen, wenn man sich nur lange genug den Daten widmet, lautet die museale Prämisse. Warum aber akzeptieren wir, dass es eine gemeinsame Realität gibt? Dass meine Realität die gleiche ist wie deine? Dass die Welt als Ereignis und Erfahrung singulär ist?

Die agnostische Aufforderung des Museums ließe sich als Konzession an divergente Realitäten lesen. Tatsächlich bekräftigt sie jedoch das stillschweigende Vertrauen in die Erkennbarkeit der Welt via Informationsüberflutung.

In ähnlicher Weise drängt die virtuelle Realität in zwei Richtungen. Das Bedürfnis, einander zu verkörpern, um die Welt zu verstehen, lässt sich auf eine Irrealität ein, durch die die Welt auf andere Weise erkannt und erfahren werden kann. Und doch wird behauptet, dass durch die Erfahrung der virtuellen Realität die Unmöglichkeit, die Realität eines anderen Menschen zu erkennen, erkennbar wird. Multiple Irrealitäten fallen zusammen (in eine).

In Los Angeles genoss ich VR-Erfahrungen, die trotz ihres digitalen Charakters nur an bestimmten Orten sichtbar waren. Heute zirkuliert die Dinner Party online, doch ich erlebte sie in einem VR-Showroom, in dem exemplarische Erlebnisse kuratiert wurden. Mit einem VR-Headset und geräuschunterdrückenden Kopfhörern ausgestattet, zurückgelehnt in einer mit rotem Samt bezogenen Sitzschale, die sich im Tempo des VR-Erlebnisses neigte und bewegte, transportierte man mich in die psychologische Erkundung des ersten berichteten Falles einer Entführung durch Aliens.

Betty und Barney Hill sind die Gastgeber der Dinnerparty, ich bin körperlos präsent als Zeugin der Ereignisse des Abends. Wir schreiben die 1960er-Jahre. Ein paar Freund*innen sind zu Gast, man plaudert nett, Barney macht einen Witz über sein erstes Date mit Betty – in einem Gefängnis, in dem sie beide nach einem Sit-in gelandet waren. Barney ist Afroamerikaner, Betty und die übrigen Anwesenden sind weiß. Barney bemüht sich um Lockerheit, doch Betty ist angespannt. Sie holt ein Tonbandgerät hervor und besteht darauf, dass die anderen eine Aufnahme anhören.

Wir hören Bettys Stimme, aufgezeichnet bei einer Hypnosesitzung. Sie beschreibt etwas aus einer anderen Welt – als würde sie das Geheimnis des Universums erfahren.

Ich verlasse das Esszimmer und begebe mich in Bettys Unterbewusstsein. Ihr Körper löst sich auf in ein Netz aus schillernden Teilchen, während sie durch das abstrakte Ambiente knallbunter Wirbel schwebt. Wir hören sie lachen. Ihr gefällt, was sie erlebt. Die Aufnahme endet. Drüben im Wohnzimmer ist nun Barney derjenige, der nervös ist. Auf dem Band hören wir den Hypnotiseur, der seine Version der Erfahrung schildert. Nun tauche ich in Barneys Unterbewusstsein ein. Auch er wird zu einer glitzernden Wolke aus Punkten. Doch er ist in Panik. Er lacht nicht wie Betty, sondern fürchtet um sein Leben. Er hat Angst, gefoltert und misshandelt zu werden. Die Aufnahme endet. Betty und Barney versuchen, diese unterschiedlichen Erfahrungen zu bewältigen. Die Gäste spüren die Spannung im Raum. Sie gehen. Ich bleibe allein mit den beiden zurück, die sich anstarren, vielleicht versuchen, Zugang zum Inneren der anderen Person zu bekommen, um zu verstehen, wie das Irreale die Kluft zwischen ihren Realitäten so krass exponieren konnte.

Das UFO Museum möchte seine Besucher*innen auf eine gemeinsame Interpretation einschwören. Der Schnappschuss einer älteren Frau auf der Veranda vor ihrem Haus wird durch eine Texttafel erläutert, auf der es heißt, dass sie lange glaubte, das Ufo von Roswell sei ein Wetterballon der Air Force gewesen, den man nicht erkannt habe. „Bevor sie starb“, liest man jedoch in der Bildbeschreibung weiter, „gab sie zu, dass sie sich getäuscht hatte, und erkannte an, dass es den Vorfall wirklich gegeben hat.“ Bei einem anderen Exponat geht es um einen kleinen I-Träger, der an der Absturzstelle gefunden wurde. Das Artefakt selbst befindet sich, zusammen mit den anderen Fundstücken, an einem geheimen Ort in einem Regierungsbunker. Einer der Militäroffiziere, der in jener Nacht an den Aufräumarbeiten vor Ort beteiligt war, soll seltsame violette Symbole an der Innenseite dieses Fragments bemerkt haben: Er übergab den I-Träger den Behörden und zeichnete anschließend aus dem Gedächtnis die Symbole auf. Das Museum präsentiert eine Kopie des I-Trägers, rekonstruiert nach der Erinnerung des Offiziers: „Der I-Träger und seine geheimnisvollen Symbole. Wenn nicht von Aliens gemacht, von wem dann?“, heißt es dazu auf der Schautafel, auf der ergänzend vermerkt ist: „Die Kopie des I-Trägers war bereits im nationalen und internationalen Fernsehen zu sehen.“

Nach dem Abspann der Dinner Party nahm ich das VR-Headset ab. Ich verharrte in der samtenen Sitzschale und ließ das Erlebte Revue passieren. In den Jahrzehnten nach Roswell wurden zahlreiche Ufos gesichtet, doch der Bericht der Hills war der erste bekanntere Fall einer Entführung durch Aliens. Den Hills wurde dabei nicht sofort klar, dass ihre beängstigende und verwirrende Begegnung mit dem Ufo eine Entführung war: Sie realisierten ihr unwirkliches Erlebnis erst im Laufe der Zeit. Tage später bekam Betty schreckliche Albträume, die darauf hindeuteten, dass sich etwas Schlimmes ereignet hatte. Jahre danach erlangten Betty und Barney (allerdings nicht ihr Arzt) durch Hypnose die Überzeugung, dass man sie an Bord des Raumschiffs geholt hatte, wo sie von grauen, humanoiden, telepathisch kommunizierenden Aliens mit Riesenaugen untersucht wurden. Ebenso wie Roswell die narrative Blaupause für den Ufo-Absturz produziert hatte, lieferten die Hills den Rahmen für die zahlreichen Entführungsgeschichten, die man sich bald darauf erzählte.

Eines der letzten Ausstellungsstücke im UFO Museum ist ein lebensgroßes Diorama. Es zeigt eine medizinische Untersuchung, wenngleich hier – anders als bei den Hills – nicht Aliens Menschen untersuchen, sondern umgekehrt. Wir sehen zwei männliche Puppen – einen Mann im schwarzen Anzug mit Hut, einen anderen mit weißem Laborkittel und Haube – neben einem Krankenhausbett, auf dem der nackte Körper eines Aliens ausgestreckt liegt: dünn, klein und grau, mit einem großen Kopf. Hinter den Puppen hängt ein Schild. Es ist Teil des Bühnenbilds und erläutert die Szene: „Alien-Autopsie-Raum. Vorsicht Gefahr. Sperrzone.“ Nebenan informiert ein anderer Text die Besucher*innen, dass der Körper des Aliens in der Showtime-Produktion Visitors – Besucher aus einer anderen Welt von 1994 als Requisite gedient hatte.

Und so kroch ich in ein Wurmloch, das die Wüste New Mexicos mit der Wüste Südkaliforniens verband und mich zurück nach Hollywood brachte. Dort setzte ich unzählige andere VR-Headsets auf und tummelte mich in fremden Realitäten. Diese Technik will mir die ganze Welt erschließen, will, dass ich hervortrete und verstehe, wie sie wirklich aussieht. Aber beim Navigieren durch diese Matrix trete ich stattdessen seitwärts in das Andersartige und gebe mich dem Vergnügen des Nichtwissens hin.

Wüsten der Unwirklichkeit
Lisa Messeri

Schon vor langer Zeit gab ich den Wunsch auf, die Wirklichkeit zu verstehen, zu messen, zu quantifizieren oder vorherzusagen, was die Welt ist und wie sie sein wird.

Wissenschaft und Technik garantieren aber genau das: Mit jeder Neuentdeckung, mit jeder Innovation schärft sich unser Blick auf die Welt, rückt die Welt in den Fokus. Doch während die Wirklichkeit an Klarheit gewinnt, erscheint etwas anderes in ihrem Schatten und fordert unsere Aufmerksamkeit, obwohl der strahlende Schein der Realität es gleichzeitig verdunkelt. Es ist das Irreale, die Unwirklichkeit – das, was sich jenseits des Erwarteten verortet und bewusst vage bleibt. Das Irreale existiert neben dem Realen als Versprechen auf das Andere.

Das Irreale ist ausgestellt im International UFO Museum and Research Center in Roswell, New Mexico. Ich gönnte mir den halbtägigen Umweg auf meiner Reise von Kalifornien nach New York, um die abgelegene, staubige Stadt zu erkunden, die 1947 wegen eines Ufo-Absturzes und der Begegnung mit Außerirdischen berühmt wurde. Ich hatte keine Ahnung, was mich erwarten würde. Mich interessierte vor allem, wie das Museum das Reale und das Unwirkliche – also das, was wir kennen, und das, was wir nie wissen werden – im Gleichgewicht hält.

Mein Museumsbesuch folgte auf ein Sabbatjahr, das ich in Los Angeles, der Hauptstadt des Unwirklichen, verbracht hatte. Los Angeles ist eine endlose Lektion im fluiden Wechselspiel von Irrealität und Realität. Die Wüstenstadt würde es gar nicht geben, hätten der ewige Sonnenschein und das milde Klima nicht in den 1910er-Jahren die Filmemacher*innen an der Ostküste überzeugt, dass sich ihre Branche auch im Westen niederlassen könnte. Wenige Dekaden später entstand Disneyland und inspiriert seitdem zahllose Denker*innen zu Betrachtungen über das Hyperreale. 2018, während meines Sabbatjahres im Land der Unwirklichkeit, belegte ich Wahlkurse zum Thema Hollywood und Themenparks, doch der Hauptfokus meines Studiums lag auf der Virtual Reality (VR) und der Community der Geschichtenerzähler*innen und Innovator*innen, die sich in Los Angeles versammelt hatten, um die Technologie des 20. Jahrhunderts für das neue Millennium zu aktualisieren.

VR ist nicht zuletzt reizvoll, weil man damit die Möglichkeit geboten bekommt, digitale Abenteuer realer als real zu erleben: Du springst ins Meer und schwimmst neben Blauwalen, du schwebst schwerelos durch eine psychedelische Unendlichkeit. Mich lockte die Technik vor allem, weil ich mir vorstellte, dass man sich als User*in beim Eintauchen in eine virtuelle Realität in das reale Erleben oder sogar in den Körper eines anderen Menschen versetzen könnte.

 

 

VR bot das Versprechen, überall und jedermann zu sein – eine radikale Transparenz des Seins, die Zugang zu allen Weltanschauungen ermöglicht.

Könnte eine solche Technik uns der Wahrheit näherbringen, die wir da draußen zu verorten meinen?

Das UFO Museum in Roswell dokumentiert so extensiv wie möglich den Absturz von 1947. Ein gerahmtes Archivbild ziert die Wände im Hauptraum des Museums. Es würde Stunden dauern, wollte man alle Details lesen und erkunden. Im schwachen Bemühen um Neutralität, damit alle Besucher*innen ihre eigenen Schlussfolgerungen ziehen können, wird präsentiert, ohne zu kuratieren oder zu kommentieren. „Was geschah wirklich?“, lautet ein Text, der den Betrachter*innen Hilfestellung geben soll. Und weiter: „Entscheiden Sie selbst!“

Das Museum (und das angeschlossene Forschungszentrum, das sich mit Ufos und Kontakten zu Aliens über die Ereignisse von Roswell hinaus befasst) geht davon aus, dass das umfänglich informierte Individuum selbst etwas so Irreales wie den Absturz eines Ufos begreifen kann. Jedes Phänomen lässt sich erfassen, wenn man sich nur lange genug den Daten widmet, lautet die museale Prämisse. Warum aber akzeptieren wir, dass es eine gemeinsame Realität gibt? Dass meine Realität die gleiche ist wie deine? Dass die Welt als Ereignis und Erfahrung singulär ist?

Die agnostische Aufforderung des Museums ließe sich als Konzession an divergente Realitäten lesen. Tatsächlich bekräftigt sie jedoch das stillschweigende Vertrauen in die Erkennbarkeit der Welt via Informationsüberflutung.

In ähnlicher Weise drängt die virtuelle Realität in zwei Richtungen. Das Bedürfnis, einander zu verkörpern, um die Welt zu verstehen, lässt sich auf eine Irrealität ein, durch die die Welt auf andere Weise erkannt und erfahren werden kann. Und doch wird behauptet, dass durch die Erfahrung der virtuellen Realität die Unmöglichkeit, die Realität eines anderen Menschen zu erkennen, erkennbar wird. Multiple Irrealitäten fallen zusammen (in eine).

In Los Angeles genoss ich VR-Erfahrungen, die trotz ihres digitalen Charakters nur an bestimmten Orten sichtbar waren. Heute zirkuliert die Dinner Party online, doch ich erlebte sie in einem VR-Showroom, in dem exemplarische Erlebnisse kuratiert wurden. Mit einem VR-Headset und geräuschunterdrückenden Kopfhörern ausgestattet, zurückgelehnt in einer mit rotem Samt bezogenen Sitzschale, die sich im Tempo des VR-Erlebnisses neigte und bewegte, transportierte man mich in die psychologische Erkundung des ersten berichteten Falles einer Entführung durch Aliens.

Betty und Barney Hill sind die Gastgeber der Dinnerparty, ich bin körperlos präsent als Zeugin der Ereignisse des Abends. Wir schreiben die 1960er-Jahre. Ein paar Freund*innen sind zu Gast, man plaudert nett, Barney macht einen Witz über sein erstes Date mit Betty – in einem Gefängnis, in dem sie beide nach einem Sit-in gelandet waren. Barney ist Afroamerikaner, Betty und die übrigen Anwesenden sind weiß. Barney bemüht sich um Lockerheit, doch Betty ist angespannt. Sie holt ein Tonbandgerät hervor und besteht darauf, dass die anderen eine Aufnahme anhören.

Wir hören Bettys Stimme, aufgezeichnet bei einer Hypnosesitzung. Sie beschreibt etwas aus einer anderen Welt – als würde sie das Geheimnis des Universums erfahren.

Ich verlasse das Esszimmer und begebe mich in Bettys Unterbewusstsein. Ihr Körper löst sich auf in ein Netz aus schillernden Teilchen, während sie durch das abstrakte Ambiente knallbunter Wirbel schwebt. Wir hören sie lachen. Ihr gefällt, was sie erlebt. Die Aufnahme endet. Drüben im Wohnzimmer ist nun Barney derjenige, der nervös ist. Auf dem Band hören wir den Hypnotiseur, der seine Version der Erfahrung schildert. Nun tauche ich in Barneys Unterbewusstsein ein. Auch er wird zu einer glitzernden Wolke aus Punkten. Doch er ist in Panik. Er lacht nicht wie Betty, sondern fürchtet um sein Leben. Er hat Angst, gefoltert und misshandelt zu werden. Die Aufnahme endet. Betty und Barney versuchen, diese unterschiedlichen Erfahrungen zu bewältigen. Die Gäste spüren die Spannung im Raum. Sie gehen. Ich bleibe allein mit den beiden zurück, die sich anstarren, vielleicht versuchen, Zugang zum Inneren der anderen Person zu bekommen, um zu verstehen, wie das Irreale die Kluft zwischen ihren Realitäten so krass exponieren konnte.

Das UFO Museum möchte seine Besucher*innen auf eine gemeinsame Interpretation einschwören. Der Schnappschuss einer älteren Frau auf der Veranda vor ihrem Haus wird durch eine Texttafel erläutert, auf der es heißt, dass sie lange glaubte, das Ufo von Roswell sei ein Wetterballon der Air Force gewesen, den man nicht erkannt habe. „Bevor sie starb“, liest man jedoch in der Bildbeschreibung weiter, „gab sie zu, dass sie sich getäuscht hatte, und erkannte an, dass es den Vorfall wirklich gegeben hat.“ Bei einem anderen Exponat geht es um einen kleinen I-Träger, der an der Absturzstelle gefunden wurde. Das Artefakt selbst befindet sich, zusammen mit den anderen Fundstücken, an einem geheimen Ort in einem Regierungsbunker. Einer der Militäroffiziere, der in jener Nacht an den Aufräumarbeiten vor Ort beteiligt war, soll seltsame violette Symbole an der Innenseite dieses Fragments bemerkt haben: Er übergab den I-Träger den Behörden und zeichnete anschließend aus dem Gedächtnis die Symbole auf. Das Museum präsentiert eine Kopie des I-Trägers, rekonstruiert nach der Erinnerung des Offiziers: „Der I-Träger und seine geheimnisvollen Symbole. Wenn nicht von Aliens gemacht, von wem dann?“, heißt es dazu auf der Schautafel, auf der ergänzend vermerkt ist: „Die Kopie des I-Trägers war bereits im nationalen und internationalen Fernsehen zu sehen.“

Nach dem Abspann der Dinner Party nahm ich das VR-Headset ab. Ich verharrte in der samtenen Sitzschale und ließ das Erlebte Revue passieren. In den Jahrzehnten nach Roswell wurden zahlreiche Ufos gesichtet, doch der Bericht der Hills war der erste bekanntere Fall einer Entführung durch Aliens. Den Hills wurde dabei nicht sofort klar, dass ihre beängstigende und verwirrende Begegnung mit dem Ufo eine Entführung war: Sie realisierten ihr unwirkliches Erlebnis erst im Laufe der Zeit. Tage später bekam Betty schreckliche Albträume, die darauf hindeuteten, dass sich etwas Schlimmes ereignet hatte. Jahre danach erlangten Betty und Barney (allerdings nicht ihr Arzt) durch Hypnose die Überzeugung, dass man sie an Bord des Raumschiffs geholt hatte, wo sie von grauen, humanoiden, telepathisch kommunizierenden Aliens mit Riesenaugen untersucht wurden. Ebenso wie Roswell die narrative Blaupause für den Ufo-Absturz produziert hatte, lieferten die Hills den Rahmen für die zahlreichen Entführungsgeschichten, die man sich bald darauf erzählte.

Eines der letzten Ausstellungsstücke im UFO Museum ist ein lebensgroßes Diorama. Es zeigt eine medizinische Untersuchung, wenngleich hier – anders als bei den Hills – nicht Aliens Menschen untersuchen, sondern umgekehrt. Wir sehen zwei männliche Puppen – einen Mann im schwarzen Anzug mit Hut, einen anderen mit weißem Laborkittel und Haube – neben einem Krankenhausbett, auf dem der nackte Körper eines Aliens ausgestreckt liegt: dünn, klein und grau, mit einem großen Kopf. Hinter den Puppen hängt ein Schild. Es ist Teil des Bühnenbilds und erläutert die Szene: „Alien-Autopsie-Raum. Vorsicht Gefahr. Sperrzone.“ Nebenan informiert ein anderer Text die Besucher*innen, dass der Körper des Aliens in der Showtime-Produktion Visitors – Besucher aus einer anderen Welt von 1994 als Requisite gedient hatte.

Und so kroch ich in ein Wurmloch, das die Wüste New Mexicos mit der Wüste Südkaliforniens verband und mich zurück nach Hollywood brachte. Dort setzte ich unzählige andere VR-Headsets auf und tummelte mich in fremden Realitäten. Diese Technik will mir die ganze Welt erschließen, will, dass ich hervortrete und verstehe, wie sie wirklich aussieht. Aber beim Navigieren durch diese Matrix trete ich stattdessen seitwärts in das Andersartige und gebe mich dem Vergnügen des Nichtwissens hin.