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Das postfaktische Museum

 

 

Nora Al-Badri, Neuronal Ancestral Sculptures Series, 2020, Courtesy the artist

 

Liebe Museen, liebe Kolonialnationen des Globalen Nordens, Ihre Daten verfolgen Sie! Dämon*innen lauern in latenten Räumen, jederzeit bereit, mit jedem Vektor anzugreifen!

Die Digitalisierung hat zur Vorstellung geführt, dass gewisse Museen nicht nur das Monopol auf physische Objekte haben, sondern auch Datensätze zu ihren Besitztümern horten und zu Datenkraken werden. Diese Praxis führt zu Momenten wie diesem, in dem ich mich gezwungen sehe, das British Museum [sic] zu nennen, wenn ich ein Artefakt aus dem Irak (wie die 3-D-Daten des schönen Lamassu, den Sie hier sehen) digital veröffentliche oder remixe.

Vielleicht ahnen Sie schon, worauf ich hinauswill? Ich sage es deutlich: Wir leben in einer postdigitalen Welt, die zugleich eine postkoloniale ist. Wir führen eine wichtige Debatte, in der es letztlich nicht um die Frage geht, welche Genehmigungen zu erteilen sind, sondern wem Kulturdaten gehören und wer sie kontrolliert (und vielleicht auch, wem sie zugeschrieben werden).

 

3D dataset of Lamassu

 

Wenn ich schreibe, dass die imperialistischen Museen von Daten verfolgt werden, meine ich damit keine abstrakten Geister, sondern verweise darauf, dass Sie sich selbst abschaffen – aufgrund von Irrelevanz! Ganz offen gesagt: Solange Sie Ihre Sammlungen nicht aktualisieren, laufen Sie Gefahr, dass Ihnen das aufgeklärte Publikum davonläuft.

Es gibt unendlich viele selbsternannte „Universal-“ oder „Weltmuseen“, die jedoch bestenfalls nationalistische, schlimmstenfalls faschistische Räume sind.

In ihrem Wirken gibt es nichts Universelles – im Sinne von Staatenlosigkeit, Globalität oder Kosmopolitismus.

Daten können staatenlos sein. Ich denke, dass wir (die Menschen) zahlreiche digitale Welt Museen aufbauen sollten, die ihren Namen wirklich verdienen. Wenn die Bürger*innen der Welt (heute) nationale Staatsangehörigkeiten nicht überwinden können, können dann Daten unsere Avantgarde darstellen? Schließlich existieren sie in eher ungeregelten, anarchistischen oder zumindest unkontrollierbaren Territorien. Die imperialistischen Museen werden anfällig für ein Hacking durch dekoloniale Köpfe. Datensätze lassen sich nicht einschließen: Einmal online oder öffentlich zugänglich, können wir zwar eine Copyright-Lizenz ergänzen, doch diese ist bedeutungslos. Die wahre Schönheit und Macht liegt in der Viralität und im Nachleben der (Kultur-)Daten. Ich nenne das technoheritage{1} (Techno-Erbe). Gleichwohl impliziert das staatenlose Techno-Erbe nicht beliebige Daten ohne Kontext oder Repräsentation durch Klassifizierung. Im Gegenteil: Wir wissen heute, dass Daten ohne Kontext bestenfalls wertlos und schlimmstenfalls schädlich sind.

Im Hinblick auf Big Data im Kulturbereich wird die Debatte irritierend, wenn Museen Urheber*innenrechte nutzen, um die Verbreitung von Wissen oder die Möglichkeit des Remixens zu beschränken. (Wie kann ein tausend Jahre altes Kunstwerk überhaupt dem Urheber*innenrecht unterliegen?) Museen führen ausgefeilte Argumente an, wenn sie versuchen, die Weiterverwendung der Kunstwerke im öffentlichen Bereich zu verbieten oder die Kommerzialisierung (natürlich mit Ausnahme der eigenen Museumsshops) zu unterbinden. Oder wenn sie vorgeben, sie vor dem „schlechten Geschmack“ von uns „einfachen Leuten“ und unserem schamlosen Remix zu schützen. Kein Scherz!{2}

Die im Globalen Norden verbreitete museale Praxis ist ein Anachronismus. Das angeblich „demokratische Potenzial“ der Technologie steht in krassem Gegensatz zur institutionellen Angst vor Relevanz- und Souveränitätsverlust bei Deutungshoheit und Repräsentation. Sie fürchten sich zu Recht. Oh ja, fürchten Sie sich, denn das Digitale ist nicht Sklav*in des Originals. Und ob Sie es glauben oder nicht: Viele brauchen „das Original“ gar nicht mehr. Es ist schlicht unmöglich, dass jede*r in jedem Museum das „Echte“ erleben kann.

Wir müssen aber gleichzeitig auch die Tatsache respektieren (ja, R E S P E K T I E R E N), dass nicht alle Kulturdaten frei verfügbar und überall verbreitet sein wollen. Das ist ein elementarer Aspekt. Die Datensätze tanzen nur dann mit Ihnen, wenn Sie sie anerkennen, wahrnehmen, würdigen oder sich aufrichtig auf sie beziehen. Tatsächlich kann ein Datensatz oder ein 3-D-gedrucktes Objekt in verschiedenen Kulturen, auf verschiedenen Kontinenten, die gleiche Macht haben und die gleiche Verbindung ermöglichen, wie ein materielles Original. Daher sind manche der Meinung, dass bestimmte Objekte weder ausgestellt und von Kustor*innen berührt noch digitalisiert und in Kopie präsentiert werden dürfen. Für sie sind Kulturdaten nicht nur mit Blick auf inhärente technologische Kapazitäten relevant (wie so häufig in der westlichen Medientheorie angenommen), sondern als etwas, das permanent übersetzt wird und Bedeutung erhält – durch lokal unterschiedliche Versionen davon, wie Welt gestaltet wird, sowie durch Kosmologien und das Wissen der Vorfahr*innen. Im Tāmaki Paenga Hira Auckland War Memorial Museum in Neuseeland entschieden die Māori, ob ihre Objekte, Bilder von Ahn*innen digitalisiert werden sollten oder nicht. Am Ende geht es um das Vorrecht, über die Digitalisierung und damit über die Repräsentation zu entscheiden.

Die Dekolonialisierung der Datenbanken bezieht sich nicht nur auf einzelne Objekte, sondern auf komplette Wissenssysteme.

Ein schönes Beispiel dafür ist die Plattform Mukurtu (Mukurtu ist ein Warumungu-Wort: Es bedeutet „ungewöhnliche Tasche“ zur sicheren Verwahrung geheiligter Materialien). Dahinter verbirgt sich eine Open-Source-Plattform sowie ein CMS-System, das von mehreren Communitys genutzt wird, um ihr digitales kulturelles Erbe selbst verwalten und teilen zu können. Die Nutzer*innen arbeiten mit kulturellen Protokollen und TK-Labels (Kennzeichnungen für traditional knowledge, also für traditionelles Wissen) wie „geheim“/„geheiligt“, „saisonal“ oder „nur für Frauen“.{3}

Anhand datengesteuerter Technologien wie der Künstlichen Intelligenz (KI) wird die Dekolonialisierung jetzt noch verworrener – und unterhaltsamer. Mit digitalen Objekten herumspielen, sie aus ihren proprietären Museumssystemen und ihrer Kommerzialisierung zu befreien, stellt einen Akt des Widerstands gegen das pränarrative Archiv dar. Seien wir mal ehrlich: Jede Form von (Techno-)Erbe ist (Daten-)Fiktion.

Wie also nutzen und gestalten wir Technologie, um Kultur zu verstehen? Maschinelles Lernen (ML) lässt bestimmte Muster sichtbar werden, einschließlich derjenigen Muster, die uns unbekannt sind – und über die wir nicht sprechen. Wendy Chun beschreibt in ihrem Essay „Queerying Homophily: Muster der Netzwerkanalyse“, wie ML die „produktive Kraft des Unbequemen“ bieten kann.{4} Unbehagen steht im Zentrum der Dekolonialisierung.

Für die emanzipatorische und künstlerische Praxis ist es sinnvoll, ein paar Dinge explizit zu formulieren. Die meisten dieser Technologien werden von den Kolonialist*innen noch nicht beherrscht (oder umfassend verstanden). Damit meine ich das Museum als überhitzte, stotternde Kolonialmaschinerie. Entsprechend müssen wir die Museumsdatenbank als politisch und emanzipatorisch erkennen. Sie ist weder an globale Machtstrukturen gebunden, noch wird sie von ihnen gesteuert. Im Gegenteil: Sie kann ein Mittel zu ihrer Überwindung darstellen. Ich werde Ihnen gleich erläutern, wie das genau funktioniert. Wenn die KI aber nur so gut ist wie ihre Datenbank, dann ist auch das Museum nur so gut wie seine Datenbank. Bei einer Podiumsdiskussion des Weltwirtschaftsforums in Davos 2018 spekulierte KI-Experte Jürgen Schmidhuber, dass Maschinen bald in der Lage sein werden, eigene Daten zu generieren und zu sammeln. Sie sind dann nicht länger von offenen Datenbanken oder der Erlaubnis der Institutionen, in unserem Fall der Museen, abhängig. Das ist die Genese des  Museums als Datenbank ohne Mauern.

In meinen aktuellen Arbeiten Babylonian Vision und Neuronal Ancestral Sculptures Series, die ich mit den ML-Expert*innen Negar Foroutan und Melika Behjati realisierte, scrapten und extrahierten wir die Datenbanken der größten Sammlungen (im Globalen Norden) von mesopotamischen, neosumerischen und assyrischen Artefakten. Wir fanden 10.000 Bilder, mit denen wir ein neuronales Netz trainierten: Dieser Prozess sollte abstrakte Einsichten in die Suche nach einer visuellen Sprache von Formen und Mustern gewähren, um daraus eine spekulative und anarchistische Archäologie zu entwickeln.

 

Videostill from machine learning process with undisclosed museum dataset.

 

Eine visuelle Museumsdatenbank enthält Bilder von originalen Artefakten, mit denen jedes Generative Adversarial Network (GAN) trainiert werden kann. Die Bilder, die den Input dieser Datenbanken darstellen, tragen selbst Zeit und Erinnerung in sich – beispielsweise Patina oder Bruchstücke. Natürlich sieht die KI nicht ein Bild, sondern nur Zahlen. Dies ist eine neuartige Form der Bilderzeugung, mit einem latenten Raum für neue synthetische Bilder, den das neuronale Netz eröffnet.

Wenn Sie 100.000 menschliche Porträts in das Netzwerk eingeben, wird dieses die Idee des Porträts begreifen und neue Porträts produzieren. Das gleiche gilt für museale Artefakte! GANs und die von ihnen generierte Ästhetik setzen sich mit unseren Fragen, unserem Verständnis und unserer Besessenheit von Authentizität, Originalität und Autor*innenschaft auseinander. Oder wie Nora Khan über unsere Wahrnehmung von generierten Bildern schrieb:

„Tatsächlich hilft uns unser rationales Verstehen des Prozesses, zu begreifen, wie provozierend diese Methode der Schaffung von Bildern ist. Mit diesem Verständnis können wir den Bildfluss nach Symbolen und Bedeutung studieren und analysieren.“{5}

Wie sieht es also mit der Bildgenese und den GANs aus? Wo finde ich den geheimen latenten Ort? GANs könnten „der Anfang eines neuen Paradigmas in der Bildherstellung “ sein.{6} Zunächst einmal gilt: Auch hier ist keine Magie im Spiel, es sind nur Zahlen. Hier gibt es nichts Unheimliches oder Traumhaftes zu sehen, also gehen Sie einfach weiter! Faszinierender ist, was uns der latente Raum vermittelt, denn hier entdecken wir das Unerwartete, das Subjektive, Interpretierbare, die Essenz der vielen Bilder, eine wandelbare Stimmung, etwas Unendliches. Es erinnert mich an die mesopotamische Art der Bildherstellung, die Zainab Bahrani beschreibt:

„Die von mir gezeigten Bilder sind in ihrer kompositorischen Form und Konzeption oft unendlich. Sie verweigern sich dem Rahmen, werden oft als Segmente dargestellt, die aus einer potenziell endlosen Komposition herausgebrochen werden, die sich in einer endlosen Folge von Spiegelungen wiederholen und das Bild in einen schwindelerregenden Mise en Abyme ziehen […] Für Mesopotamien, den Ort, von dem wir die frühesten textlichen und archäologischen Nachweise für ein Konzept von Bild und Ästhetik haben, behaupte ich, dass die Bilder eine diachronische Präsenz hatten: Man sah sie als Objekte, die die Zeit transzendieren und Spuren der Zeit selbst tragen oder verkörpern.“{7}

Die produzierten Bilder können sogar fotorealistisch sein. Und dennoch sind sie keine Fotos, denn jedes von ihnen entstand aus dem Rauschen Hunderter von Epochen (die Wiederholung des Lernens durch den Generator über den Diskriminator) durch das neuronale Netz. Wie neu und originär sind diese Bilder wirklich? Ist das Wahrhaftigkeit? Spielt das überhaupt eine Rolle? Größere Fragen stellen sich, wenn es darum geht, welches Wissen und welche Form in der Kunst über die Generationen hinweg weitergegeben werden und wie sie uns inspirieren. Aus diesem Grund sind die ausgegebenen Bilder etwas, das ich als „überliefert“ bezeichne: Durch die GANs erkennen wir die Semantik großer visueller Datensätze. Im latenten findet sich semantischer Inhalt, der für das menschliche Auge und den menschlichen Geist Relevanz hat und Resonanz findet. Im Grunde geht es um die Bedeutung, die wir den Daten zuweisen. Den latenten Raum können wir weder kontrollieren noch antizipieren, denn er ist ein Raum des Unbekannten und Unsichtbaren, eine Anhäufung visueller Epistemologien oder Wissenssysteme. Die Abstraktion des Outputs erlaubt es uns, die Bilder und ihre Sprache als eine Form des visuellen Gedächtnisses zu betrachten, das nicht auf die eingegebenen Objekte beschränkt ist. Es ist ein Speicher, der über diese Objekte hinausgeht und neue Erinnerungsbilder generieren kann; das Potenzial eines unendlichen Archivs (archive of abundance). Durch GANs generieren wir neue Materialitäten, die als affektive Qualitäten des Originals in einer postoriginalen Form an die Oberfläche drängen.

Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Wenn man ML als eine Technologie betrachtet, die unser kollektives Gedächtnis performt und verarbeitet, ist es sinnvoll, sie auf die großen Kulturdaten der Vergangenheit anzuwenden, um originale, synthetische Bilder zu generieren.

Bei GANs gibt es gewiss Vorhersehung, doch keine Kontrolle oder Antizipation durch den Menschen. Wir müssen uns in den primordialen Nebel unserer Vorfahr*innen und in unsere zirkulierenden Bildwelten fallen lassen …

Meine Arbeit Babylonian Vision thematisiert zudem einen anderen wichtigen Aspekt: die Frage nach der Repräsentation in den Datensätzen, die man zum Training der KI verwendet. Neuronale Netze werden heute mit Millionen von Bildern aus den großen Konzernen trainiert: Bei ImageNet oder Open Images stammen 80 Prozent der Inhalte aus dem Globalen Norden. Es handelt sich de facto um eine visuelle Hegemonie. Nicht gesehen werden kann im Zeitalter der Überwachung durchaus von Vorteil sein. Es fördert aber auch die Dominanz der westlichen visuellen Kultur.{8}

KI ist heute eine Blackbox, die uns ihre inneren Abläufe und Logiken nicht offenbart. Es ist so gut wie unmöglich von dem Output auf den Input, also die Trainingsdaten, zu schließen. Aus Privacy- und Diskriminierungsgründen (Bias) ist die nicht vorhandene Nachvollziehbarkeit schädlich. Für mein Projekt ist es jedoch ein Vorteil: Die von mir ausgewählten Museen haben ironischerweise keine Handhabe rechtlich gegen mich und meine Bildproduktion vorzugehen, da sie nicht beweisen können, welche Datensätze tatsächlich für Trainingszwecke genutzt wurden. Die negative Seite der GANs wirkt hier also dekolonisierend. Ist die Black Box auch in vielerlei Hinsicht problematisch, so ist sie manchmal doch … nun … einfach großartig, dekolonial und emanzipatorisch.

Lasst die Daten tanzen!

 

{1}Katyal, Sonia K. „Technoheritage.“ Calif. L. Rev. 105 (2017): 1111.

{2}When students from Stanford University scanned Michelangelo’s David, they had to promise to “keep renderings and use of the data in good taste” because the artifacts “are the proud artistic patrimony of Italy” (ibid.,p. 1148).

{3}See the useful writeup of a podcast with a member of the Mukurtu team at https://theconversation.com/mukurtu-an-online-dilly-bag-for-keeping-indigenous-digital-archives-safe-112949

{4}Chun, Wendy Hui Kyong. „Queering homophily.“ Zeitschrift für Medienwissenschaften 18 (2018): 131-148.

{5}Khan, Nora introduction in: Reas, Casey: Making Pictures with Generative Adversarial Networks, Anteism Books, 2019.

{6}Reas, Casey: Making Pictures with Generative Adversarial Networks, Anteism Books, 2019.

{7}Bahrani, Zainab: The Infinite Image: Art, Time and the Aesthetic Dimension in Antiquity, Reak-tion Books, 2014, p8.

{8}Shankar, Shreya, Yoni Halpern, Eric Breck, James Atwood, Jimbo Wilson, and D. Sculley. „No classification without representation: Assessing geodiversity issues in open data sets for the developing world.“ arXiv preprint arXiv:1711.08536 (2017).

Das postfaktische Museum
Nora Al-Badri

 

 

Nora Al-Badri, Neuronal Ancestral Sculptures Series, 2020, Courtesy the artist

 

Liebe Museen, liebe Kolonialnationen des Globalen Nordens, Ihre Daten verfolgen Sie! Dämon*innen lauern in latenten Räumen, jederzeit bereit, mit jedem Vektor anzugreifen!

Die Digitalisierung hat zur Vorstellung geführt, dass gewisse Museen nicht nur das Monopol auf physische Objekte haben, sondern auch Datensätze zu ihren Besitztümern horten und zu Datenkraken werden. Diese Praxis führt zu Momenten wie diesem, in dem ich mich gezwungen sehe, das British Museum [sic] zu nennen, wenn ich ein Artefakt aus dem Irak (wie die 3-D-Daten des schönen Lamassu, den Sie hier sehen) digital veröffentliche oder remixe.

Vielleicht ahnen Sie schon, worauf ich hinauswill? Ich sage es deutlich: Wir leben in einer postdigitalen Welt, die zugleich eine postkoloniale ist. Wir führen eine wichtige Debatte, in der es letztlich nicht um die Frage geht, welche Genehmigungen zu erteilen sind, sondern wem Kulturdaten gehören und wer sie kontrolliert (und vielleicht auch, wem sie zugeschrieben werden).

 

3D dataset of Lamassu

 

Wenn ich schreibe, dass die imperialistischen Museen von Daten verfolgt werden, meine ich damit keine abstrakten Geister, sondern verweise darauf, dass Sie sich selbst abschaffen – aufgrund von Irrelevanz! Ganz offen gesagt: Solange Sie Ihre Sammlungen nicht aktualisieren, laufen Sie Gefahr, dass Ihnen das aufgeklärte Publikum davonläuft.

Es gibt unendlich viele selbsternannte „Universal-“ oder „Weltmuseen“, die jedoch bestenfalls nationalistische, schlimmstenfalls faschistische Räume sind.

In ihrem Wirken gibt es nichts Universelles – im Sinne von Staatenlosigkeit, Globalität oder Kosmopolitismus.

Daten können staatenlos sein. Ich denke, dass wir (die Menschen) zahlreiche digitale Welt Museen aufbauen sollten, die ihren Namen wirklich verdienen. Wenn die Bürger*innen der Welt (heute) nationale Staatsangehörigkeiten nicht überwinden können, können dann Daten unsere Avantgarde darstellen? Schließlich existieren sie in eher ungeregelten, anarchistischen oder zumindest unkontrollierbaren Territorien. Die imperialistischen Museen werden anfällig für ein Hacking durch dekoloniale Köpfe. Datensätze lassen sich nicht einschließen: Einmal online oder öffentlich zugänglich, können wir zwar eine Copyright-Lizenz ergänzen, doch diese ist bedeutungslos. Die wahre Schönheit und Macht liegt in der Viralität und im Nachleben der (Kultur-)Daten. Ich nenne das technoheritage{1} (Techno-Erbe). Gleichwohl impliziert das staatenlose Techno-Erbe nicht beliebige Daten ohne Kontext oder Repräsentation durch Klassifizierung. Im Gegenteil: Wir wissen heute, dass Daten ohne Kontext bestenfalls wertlos und schlimmstenfalls schädlich sind.

Im Hinblick auf Big Data im Kulturbereich wird die Debatte irritierend, wenn Museen Urheber*innenrechte nutzen, um die Verbreitung von Wissen oder die Möglichkeit des Remixens zu beschränken. (Wie kann ein tausend Jahre altes Kunstwerk überhaupt dem Urheber*innenrecht unterliegen?) Museen führen ausgefeilte Argumente an, wenn sie versuchen, die Weiterverwendung der Kunstwerke im öffentlichen Bereich zu verbieten oder die Kommerzialisierung (natürlich mit Ausnahme der eigenen Museumsshops) zu unterbinden. Oder wenn sie vorgeben, sie vor dem „schlechten Geschmack“ von uns „einfachen Leuten“ und unserem schamlosen Remix zu schützen. Kein Scherz!{2}

Die im Globalen Norden verbreitete museale Praxis ist ein Anachronismus. Das angeblich „demokratische Potenzial“ der Technologie steht in krassem Gegensatz zur institutionellen Angst vor Relevanz- und Souveränitätsverlust bei Deutungshoheit und Repräsentation. Sie fürchten sich zu Recht. Oh ja, fürchten Sie sich, denn das Digitale ist nicht Sklav*in des Originals. Und ob Sie es glauben oder nicht: Viele brauchen „das Original“ gar nicht mehr. Es ist schlicht unmöglich, dass jede*r in jedem Museum das „Echte“ erleben kann.

Wir müssen aber gleichzeitig auch die Tatsache respektieren (ja, R E S P E K T I E R E N), dass nicht alle Kulturdaten frei verfügbar und überall verbreitet sein wollen. Das ist ein elementarer Aspekt. Die Datensätze tanzen nur dann mit Ihnen, wenn Sie sie anerkennen, wahrnehmen, würdigen oder sich aufrichtig auf sie beziehen. Tatsächlich kann ein Datensatz oder ein 3-D-gedrucktes Objekt in verschiedenen Kulturen, auf verschiedenen Kontinenten, die gleiche Macht haben und die gleiche Verbindung ermöglichen, wie ein materielles Original. Daher sind manche der Meinung, dass bestimmte Objekte weder ausgestellt und von Kustor*innen berührt noch digitalisiert und in Kopie präsentiert werden dürfen. Für sie sind Kulturdaten nicht nur mit Blick auf inhärente technologische Kapazitäten relevant (wie so häufig in der westlichen Medientheorie angenommen), sondern als etwas, das permanent übersetzt wird und Bedeutung erhält – durch lokal unterschiedliche Versionen davon, wie Welt gestaltet wird, sowie durch Kosmologien und das Wissen der Vorfahr*innen. Im Tāmaki Paenga Hira Auckland War Memorial Museum in Neuseeland entschieden die Māori, ob ihre Objekte, Bilder von Ahn*innen digitalisiert werden sollten oder nicht. Am Ende geht es um das Vorrecht, über die Digitalisierung und damit über die Repräsentation zu entscheiden.

Die Dekolonialisierung der Datenbanken bezieht sich nicht nur auf einzelne Objekte, sondern auf komplette Wissenssysteme.

Ein schönes Beispiel dafür ist die Plattform Mukurtu (Mukurtu ist ein Warumungu-Wort: Es bedeutet „ungewöhnliche Tasche“ zur sicheren Verwahrung geheiligter Materialien). Dahinter verbirgt sich eine Open-Source-Plattform sowie ein CMS-System, das von mehreren Communitys genutzt wird, um ihr digitales kulturelles Erbe selbst verwalten und teilen zu können. Die Nutzer*innen arbeiten mit kulturellen Protokollen und TK-Labels (Kennzeichnungen für traditional knowledge, also für traditionelles Wissen) wie „geheim“/„geheiligt“, „saisonal“ oder „nur für Frauen“.{3}

Anhand datengesteuerter Technologien wie der Künstlichen Intelligenz (KI) wird die Dekolonialisierung jetzt noch verworrener – und unterhaltsamer. Mit digitalen Objekten herumspielen, sie aus ihren proprietären Museumssystemen und ihrer Kommerzialisierung zu befreien, stellt einen Akt des Widerstands gegen das pränarrative Archiv dar. Seien wir mal ehrlich: Jede Form von (Techno-)Erbe ist (Daten-)Fiktion.

Wie also nutzen und gestalten wir Technologie, um Kultur zu verstehen? Maschinelles Lernen (ML) lässt bestimmte Muster sichtbar werden, einschließlich derjenigen Muster, die uns unbekannt sind – und über die wir nicht sprechen. Wendy Chun beschreibt in ihrem Essay „Queerying Homophily: Muster der Netzwerkanalyse“, wie ML die „produktive Kraft des Unbequemen“ bieten kann.{4} Unbehagen steht im Zentrum der Dekolonialisierung.

Für die emanzipatorische und künstlerische Praxis ist es sinnvoll, ein paar Dinge explizit zu formulieren. Die meisten dieser Technologien werden von den Kolonialist*innen noch nicht beherrscht (oder umfassend verstanden). Damit meine ich das Museum als überhitzte, stotternde Kolonialmaschinerie. Entsprechend müssen wir die Museumsdatenbank als politisch und emanzipatorisch erkennen. Sie ist weder an globale Machtstrukturen gebunden, noch wird sie von ihnen gesteuert. Im Gegenteil: Sie kann ein Mittel zu ihrer Überwindung darstellen. Ich werde Ihnen gleich erläutern, wie das genau funktioniert. Wenn die KI aber nur so gut ist wie ihre Datenbank, dann ist auch das Museum nur so gut wie seine Datenbank. Bei einer Podiumsdiskussion des Weltwirtschaftsforums in Davos 2018 spekulierte KI-Experte Jürgen Schmidhuber, dass Maschinen bald in der Lage sein werden, eigene Daten zu generieren und zu sammeln. Sie sind dann nicht länger von offenen Datenbanken oder der Erlaubnis der Institutionen, in unserem Fall der Museen, abhängig. Das ist die Genese des  Museums als Datenbank ohne Mauern.

In meinen aktuellen Arbeiten Babylonian Vision und Neuronal Ancestral Sculptures Series, die ich mit den ML-Expert*innen Negar Foroutan und Melika Behjati realisierte, scrapten und extrahierten wir die Datenbanken der größten Sammlungen (im Globalen Norden) von mesopotamischen, neosumerischen und assyrischen Artefakten. Wir fanden 10.000 Bilder, mit denen wir ein neuronales Netz trainierten: Dieser Prozess sollte abstrakte Einsichten in die Suche nach einer visuellen Sprache von Formen und Mustern gewähren, um daraus eine spekulative und anarchistische Archäologie zu entwickeln.

 

Videostill from machine learning process with undisclosed museum dataset.

 

Eine visuelle Museumsdatenbank enthält Bilder von originalen Artefakten, mit denen jedes Generative Adversarial Network (GAN) trainiert werden kann. Die Bilder, die den Input dieser Datenbanken darstellen, tragen selbst Zeit und Erinnerung in sich – beispielsweise Patina oder Bruchstücke. Natürlich sieht die KI nicht ein Bild, sondern nur Zahlen. Dies ist eine neuartige Form der Bilderzeugung, mit einem latenten Raum für neue synthetische Bilder, den das neuronale Netz eröffnet.

Wenn Sie 100.000 menschliche Porträts in das Netzwerk eingeben, wird dieses die Idee des Porträts begreifen und neue Porträts produzieren. Das gleiche gilt für museale Artefakte! GANs und die von ihnen generierte Ästhetik setzen sich mit unseren Fragen, unserem Verständnis und unserer Besessenheit von Authentizität, Originalität und Autor*innenschaft auseinander. Oder wie Nora Khan über unsere Wahrnehmung von generierten Bildern schrieb:

„Tatsächlich hilft uns unser rationales Verstehen des Prozesses, zu begreifen, wie provozierend diese Methode der Schaffung von Bildern ist. Mit diesem Verständnis können wir den Bildfluss nach Symbolen und Bedeutung studieren und analysieren.“{5}

Wie sieht es also mit der Bildgenese und den GANs aus? Wo finde ich den geheimen latenten Ort? GANs könnten „der Anfang eines neuen Paradigmas in der Bildherstellung “ sein.{6} Zunächst einmal gilt: Auch hier ist keine Magie im Spiel, es sind nur Zahlen. Hier gibt es nichts Unheimliches oder Traumhaftes zu sehen, also gehen Sie einfach weiter! Faszinierender ist, was uns der latente Raum vermittelt, denn hier entdecken wir das Unerwartete, das Subjektive, Interpretierbare, die Essenz der vielen Bilder, eine wandelbare Stimmung, etwas Unendliches. Es erinnert mich an die mesopotamische Art der Bildherstellung, die Zainab Bahrani beschreibt:

„Die von mir gezeigten Bilder sind in ihrer kompositorischen Form und Konzeption oft unendlich. Sie verweigern sich dem Rahmen, werden oft als Segmente dargestellt, die aus einer potenziell endlosen Komposition herausgebrochen werden, die sich in einer endlosen Folge von Spiegelungen wiederholen und das Bild in einen schwindelerregenden Mise en Abyme ziehen […] Für Mesopotamien, den Ort, von dem wir die frühesten textlichen und archäologischen Nachweise für ein Konzept von Bild und Ästhetik haben, behaupte ich, dass die Bilder eine diachronische Präsenz hatten: Man sah sie als Objekte, die die Zeit transzendieren und Spuren der Zeit selbst tragen oder verkörpern.“{7}

Die produzierten Bilder können sogar fotorealistisch sein. Und dennoch sind sie keine Fotos, denn jedes von ihnen entstand aus dem Rauschen Hunderter von Epochen (die Wiederholung des Lernens durch den Generator über den Diskriminator) durch das neuronale Netz. Wie neu und originär sind diese Bilder wirklich? Ist das Wahrhaftigkeit? Spielt das überhaupt eine Rolle? Größere Fragen stellen sich, wenn es darum geht, welches Wissen und welche Form in der Kunst über die Generationen hinweg weitergegeben werden und wie sie uns inspirieren. Aus diesem Grund sind die ausgegebenen Bilder etwas, das ich als „überliefert“ bezeichne: Durch die GANs erkennen wir die Semantik großer visueller Datensätze. Im latenten findet sich semantischer Inhalt, der für das menschliche Auge und den menschlichen Geist Relevanz hat und Resonanz findet. Im Grunde geht es um die Bedeutung, die wir den Daten zuweisen. Den latenten Raum können wir weder kontrollieren noch antizipieren, denn er ist ein Raum des Unbekannten und Unsichtbaren, eine Anhäufung visueller Epistemologien oder Wissenssysteme. Die Abstraktion des Outputs erlaubt es uns, die Bilder und ihre Sprache als eine Form des visuellen Gedächtnisses zu betrachten, das nicht auf die eingegebenen Objekte beschränkt ist. Es ist ein Speicher, der über diese Objekte hinausgeht und neue Erinnerungsbilder generieren kann; das Potenzial eines unendlichen Archivs (archive of abundance). Durch GANs generieren wir neue Materialitäten, die als affektive Qualitäten des Originals in einer postoriginalen Form an die Oberfläche drängen.

Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Wenn man ML als eine Technologie betrachtet, die unser kollektives Gedächtnis performt und verarbeitet, ist es sinnvoll, sie auf die großen Kulturdaten der Vergangenheit anzuwenden, um originale, synthetische Bilder zu generieren.

Bei GANs gibt es gewiss Vorhersehung, doch keine Kontrolle oder Antizipation durch den Menschen. Wir müssen uns in den primordialen Nebel unserer Vorfahr*innen und in unsere zirkulierenden Bildwelten fallen lassen …

Meine Arbeit Babylonian Vision thematisiert zudem einen anderen wichtigen Aspekt: die Frage nach der Repräsentation in den Datensätzen, die man zum Training der KI verwendet. Neuronale Netze werden heute mit Millionen von Bildern aus den großen Konzernen trainiert: Bei ImageNet oder Open Images stammen 80 Prozent der Inhalte aus dem Globalen Norden. Es handelt sich de facto um eine visuelle Hegemonie. Nicht gesehen werden kann im Zeitalter der Überwachung durchaus von Vorteil sein. Es fördert aber auch die Dominanz der westlichen visuellen Kultur.{8}

KI ist heute eine Blackbox, die uns ihre inneren Abläufe und Logiken nicht offenbart. Es ist so gut wie unmöglich von dem Output auf den Input, also die Trainingsdaten, zu schließen. Aus Privacy- und Diskriminierungsgründen (Bias) ist die nicht vorhandene Nachvollziehbarkeit schädlich. Für mein Projekt ist es jedoch ein Vorteil: Die von mir ausgewählten Museen haben ironischerweise keine Handhabe rechtlich gegen mich und meine Bildproduktion vorzugehen, da sie nicht beweisen können, welche Datensätze tatsächlich für Trainingszwecke genutzt wurden. Die negative Seite der GANs wirkt hier also dekolonisierend. Ist die Black Box auch in vielerlei Hinsicht problematisch, so ist sie manchmal doch … nun … einfach großartig, dekolonial und emanzipatorisch.

Lasst die Daten tanzen!

 

{1}Katyal, Sonia K. „Technoheritage.“ Calif. L. Rev. 105 (2017): 1111.

{2}When students from Stanford University scanned Michelangelo’s David, they had to promise to “keep renderings and use of the data in good taste” because the artifacts “are the proud artistic patrimony of Italy” (ibid.,p. 1148).

{3}See the useful writeup of a podcast with a member of the Mukurtu team at https://theconversation.com/mukurtu-an-online-dilly-bag-for-keeping-indigenous-digital-archives-safe-112949

{4}Chun, Wendy Hui Kyong. „Queering homophily.“ Zeitschrift für Medienwissenschaften 18 (2018): 131-148.

{5}Khan, Nora introduction in: Reas, Casey: Making Pictures with Generative Adversarial Networks, Anteism Books, 2019.

{6}Reas, Casey: Making Pictures with Generative Adversarial Networks, Anteism Books, 2019.

{7}Bahrani, Zainab: The Infinite Image: Art, Time and the Aesthetic Dimension in Antiquity, Reak-tion Books, 2014, p8.

{8}Shankar, Shreya, Yoni Halpern, Eric Breck, James Atwood, Jimbo Wilson, and D. Sculley. „No classification without representation: Assessing geodiversity issues in open data sets for the developing world.“ arXiv preprint arXiv:1711.08536 (2017).