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Welche Macht besitzt das Verborgene in unserer scheinbar „offenen“ Gesellschaft? Wie konnte der Drang nach absoluter Sichtbarkeit – also danach, die Welt zu sichern und zu demokratisieren, indem man ihre Regierungen und Bürger*innen zu „offenen Büchern“ macht – Verschwörungstheorien und Lügen zur Normalität werden lassen, verbunden mit dem hartnäckigen Bestehen darauf, dass die Menschen endlich „aufwachen“ und die versteckten Wahrheiten sehen müssen? Die bizarre Welt, in der wir uns heute wiederfinden, manifestiert sich aufs Feinste in den Impfgegner*innen, die den umfassend auf Sicherheit und Wirksamkeit getesteten Impfstoffen gegen Covid-19 nicht trauen und zugleich bereitwillig Pferdemedizin einnehmen, deren Toxizität für Menschen bewiesen ist.

Der Blick zurück hilft uns, die Gegenwart zu verstehen. Nach Veröffentlichung der Pentagon-Papiere, die die Geheimnisse und Lügen der US-amerikanischen Beteiligung am Vietnamkrieg enthüllten, schrieb Hannah Arendt über Wahrheit und Politik, „wie verletzlich das ganze Gefüge von Tatsachen [ist], in dem wir unser tägliches Leben verbringen; es ist immer in Gefahr, von einzelnen Lügen durchlöchert oder von der organisierten Lüge von Gruppen, Nationen oder Klassen in Stücke gerissen zu werden.“{1} Aufbauend auf ihren früheren Werken über das Erstarken der totalitären Propaganda im 20. Jahrhundert, die – so die Philosophin – die Wahrheit durch ein konsistentes und komplettes Lügensystem ersetzte, konstatiert sie, dass die Lüge in der Politik die Fähigkeit des Menschen schwächt, „an die Realität seiner eigenen Erfahrung zu glauben“ und auf der Grundlage von Tatsachen eine informierte Meinung zu bilden.{2} Damit ist, wie Arendt argumentiert, die schlimmste Konsequenz nicht, „dass die Lüge nun als Wahrheit akzeptiert und die Wahrheit als Lüge diffamiert wird, sondern dass der Sinn, mit dem wir uns in der realen Welt orientieren […] zerstört wird.“{3} Daher wenden wir uns totalitären Fiktionen zu, die wir als „sechsten Sinn“ empfinden, damit unsere Vorstellungskraft uns hilft, die „natürlichen und historischen Gesetze“ zu erkennen, die unter der Oberfläche lauern.

In unserer modernen, von „alternativen Fakten“, Verschwörungstheorien und „Fake News“ geprägten postfaktischen Zeit bekommen Arendts Worte eine neue Relevanz – nicht zuletzt, weil sie den Mut hatte, das Bemühen der Mächtigen um ein Verwischen der Unterschiede zwischen richtig und falsch zu entlarven. Lesen wir Arendt heute, kommt uns unmittelbar die Stimmung in den sozialen Medien und die von vielen formulierte Aufforderung, die „rote Pille“ zu nehmen, in den Sinn. Während der endlosen ersten Welle der Covid-19-Pandemie twitterte Elon Musk im Juli 2020 – vom Interesse getrieben, seine Fabriken in Kalifornien gesetzeswidrig wieder zu öffnen: „Nehmt die rote Pille!“ Viele, darunter Ivanka Trump, antworteten: „Genommen!“{4} Die „rote Pille“ ist natürlich eine Fiktion, eine Anspielung auf den Film Matrix. In einer Szene bietet Morpheus, der Anführer einer aufständischen Gruppe von Hacker*innen, Neo, dem Helden der Geschichte, zwei Pillen an: Die blaue Pille wird jegliche Erinnerung an ihre Begegnung löschen, die rote Pille hingegen die Wahrheit offenbaren. Neo entscheidet sich für die rote Pille, da er spürt, dass etwas in seiner Welt nicht stimmt – einer Welt, in der auch das Publikum lebt. Neo „erwacht“ daraufhin erst im wahren (Alb-)Traum, denn „unsere“ Welt ist nichts weiter als eine Computersimulation.

 

In einer interessanten Wendung ist die ursprünglich aktive Entscheidung für die rote oder die blaue Pille heute zu einem passiven Akt geworden: „Nehmt die rote Pille!“, lautet der Befehl – und er wird befolgt.

Doch welches Problem wollen wir lösen, wenn wir „die rote Pille nehmen“? Hier müssen wir über Arendt hinausdenken, denn ihr Lob der Freiheit als heroischem griechischem Kampf zwischen gleichen und freien Männern wurde ja erst durch die aktive Unterwerfung von Frauen und Sklav*innen möglich. Überdies verwischt das aufgrund der Fake News verliehene Etikett „post truth“ in der Welt „nach der Wahrheit“ die Unterschiede zwischen Wahrheit, Fakten, Authentizität und Medien. Zwar besteht ein Zusammenhang zwischen Fakt und Wahrheit, doch austauschbar sind sie nicht. Das Wort Faktum leitet sich vom lateinischen facere (tun, machen) ab, während der moderne Fakt auf die Praxis der doppelten Buchführung des Frühkapitalismus zurückgeht (das heißt auf eine Zeit, in der Ordnung und numerische Darstellung essenzielle Elemente der Buchhaltung waren, welche die ihnen zugeschriebene empirische Faktizität der Zahlen erst ermöglichte).{5} Wahrheit – im Englischen truth – ist etymologisch verbunden mit dem Begriff trust (Vertrauen). Authentizität besitzt – wie Autorität, Autor*innenschaft und Autoritarismus – eine historische Bindung an die dramatische Selbsterschaffung und Rhetorik.{6} Wir müssen also nicht nur korrekt vorgehen und akkurat formulieren – der Faktencheck ist zwar wichtig, jedoch erschreckend unwirksam bei der Widerlegung von Verschwörungstheorien oder Fake News –, sondern auch die Frage beantworten, warum Menschen unabhängig vom Wahrheitsgehalt einer Sache etwas für wahr halten. Bezeichnenderweise wurde den US-Wahlen des Jahres 2016 ein hohes Maß an „Fake-News“ wie gleichzeitig auch an Authentizität bescheinigt, was – je nach Sichtweise des politischen Lagers – auch dem Wahlsieger selbst zugesprochen wurde.

„Redpilling“ („Die rote Pille nehmen“)ist in diesem Zusammenhang ein auf drei Ebenen wirksames Konzept: Erstens vermittelt es, wie unsere auf scheinbar konsistenten technologischen Codes und Wissen basierenden digitalen Systeme als Tempel der modernen Medizin konstruiert wurden, um der palliativen Hoffnung für einen kranken sozialen Körper immer wieder Unterschlupf zu gewähren. Paranoia hält diese Systeme auf gefährliche Weise aufrecht. Riskant ist daher weder das Hinterfragen noch die Kritik – beides zentrale Faktoren für die Demokratie –, sondern ihre Verwandlung in die tiefe Überzeugung von der Richtigkeit verborgener Quellen. Zweitens stärkt Redpillingdie Bedeutung vernetzter Nachbarschaften und die Bildung der Echokammern, die die offenen Geheimnisse bergen. Die „rote Pille“ wird auf Befehl oder Vorschlag von anderen genommen, denen man traut, weil sie die eigenen Zweifel teilen, weil ihnen gefällt, was man selbst mag, weil sie so authentisch sind wie man selbst. Schließlich verweisen Redpillingund Matrix auf die absurd falschen Identifikationen, welche die Gesellschaft polarisieren und leicht in eine andere Bahn lenken können. Der Film Matrix von 1999 war nicht zur Rekrutierung für QAnon gedacht, sondern galt vielmehr als Aufruf an das Publikum, sich von repressiver Ideologie zu befreien. Matrixhandelt von Sklaverei, von radikalen Bürger*innenrechtsbewegungen und der Bürde des weißen Mannes. In der im Medium Film vermittelten Identifikation mit „anderen“ – mit der in historisch rassistischen Begriffen beschriebenen versklavten Menschheit, mit der weisen, alten Schwarzen Frau als Orakel, mit Zion, der Stadt der freien Menschen – offenbart sich das Ausmaß, in dem die konspirativen und konservativen Visionen der Emanzipation heute durch „Entidentifikation“ mit den Unterdrückten funktionieren. Er spielt mit einem toxischen Befreiungsneid, der helfen soll, bürgerliche Freiheiten zu überwinden, indem man angeblich von seinen Held*innen „lernt“ und letztlich an ihre Stelle tritt.

Was wäre also, wenn wir – die Künstler*innen, Gestalter*innen, die Öffentlichkeit – einmal hinter die Kulissen blicken und die nur schlecht verborgene Gewalt und Diskriminierung um uns herum zur Kenntnis nehmen würden? Was wäre, wenn wir uns auf das Leben, die Träume und Erfahrungen dieser Held*innen einließen, nicht, um selbst ihre Stelle einzunehmen, sondern um gemeinsam die Welt zu schaffen, in der sie leben wollen? Diese Frage hat unmittelbar mit der Ontologie des Designs zu tun. Schließlich ist, wie Arturo Escobar so treffend formuliert, „Design ein Schlüsselfaktor in unserer Entwicklung, denn die Praxis der von uns gestalteten Objekte und Werkzeuge impliziert die Forderung an uns, etwas zu leisten.“{7} An dieser Stelle kehren wir zu Hannah Arendt zurück und erkennen die Düsternis unserer Zeit als eine Chance, sie ins Licht zu rücken: als eine Möglichkeit der Erleuchtung.

 

 

Quellen:

{1}   Hannah Arendt, „Lying in Politics: Reflections on the Pentagon Papers“, in: The New York Review, 18. November 1971.

{2}   Hannah Arendt, The Origins of Totalitarianism, New York, NY: Schocken Books, 2004, S. 351.

{3}   Hannah Arendt, Between Past and Future. Eight Exercises in Political Thought, New York, NY: The Viking Press, 1968, S. 257.

{4}   Sonia Rao, „How the red pill got to Elon Musk: A brief look back at public figures co-opting ,The Matrix‘“, in: The Washington Post, abrufbar unter: https://www.washingtonpost.com/arts-entertainment/2020/05/18/elon-musk-ivanka-trump-matrix-red-pill (zuletzt abgerufen am 27. Oktober 2020).

{5}   Mary Poovey, A History of the Modern Fact: Problems of Knowledge in the Sciences of Wealth and Society, Chicago, IL: The University of Chicago Press, 1998, S. 29–91.

{6}   Zum Verhältnis zwischen Wahrheit und Vertrauen siehe Steven Shapin, A Social History of Truth: Civility and Science in Seventeenth-Century England, Chicago, IL: The University of Chicago Press, 1995, S. 3–4.

{6}   Arturo Escobar, Designs for the Pluriverse: Radical Interdependence, Autonomy, and the Making of Worlds, London: Duke University Press, 2018, S. 30.

Wahrheit und Düsternis
Gillian Russell and Wendy Hui Kyong Chun

 

Welche Macht besitzt das Verborgene in unserer scheinbar „offenen“ Gesellschaft? Wie konnte der Drang nach absoluter Sichtbarkeit – also danach, die Welt zu sichern und zu demokratisieren, indem man ihre Regierungen und Bürger*innen zu „offenen Büchern“ macht – Verschwörungstheorien und Lügen zur Normalität werden lassen, verbunden mit dem hartnäckigen Bestehen darauf, dass die Menschen endlich „aufwachen“ und die versteckten Wahrheiten sehen müssen? Die bizarre Welt, in der wir uns heute wiederfinden, manifestiert sich aufs Feinste in den Impfgegner*innen, die den umfassend auf Sicherheit und Wirksamkeit getesteten Impfstoffen gegen Covid-19 nicht trauen und zugleich bereitwillig Pferdemedizin einnehmen, deren Toxizität für Menschen bewiesen ist.

Der Blick zurück hilft uns, die Gegenwart zu verstehen. Nach Veröffentlichung der Pentagon-Papiere, die die Geheimnisse und Lügen der US-amerikanischen Beteiligung am Vietnamkrieg enthüllten, schrieb Hannah Arendt über Wahrheit und Politik, „wie verletzlich das ganze Gefüge von Tatsachen [ist], in dem wir unser tägliches Leben verbringen; es ist immer in Gefahr, von einzelnen Lügen durchlöchert oder von der organisierten Lüge von Gruppen, Nationen oder Klassen in Stücke gerissen zu werden.“{1} Aufbauend auf ihren früheren Werken über das Erstarken der totalitären Propaganda im 20. Jahrhundert, die – so die Philosophin – die Wahrheit durch ein konsistentes und komplettes Lügensystem ersetzte, konstatiert sie, dass die Lüge in der Politik die Fähigkeit des Menschen schwächt, „an die Realität seiner eigenen Erfahrung zu glauben“ und auf der Grundlage von Tatsachen eine informierte Meinung zu bilden.{2} Damit ist, wie Arendt argumentiert, die schlimmste Konsequenz nicht, „dass die Lüge nun als Wahrheit akzeptiert und die Wahrheit als Lüge diffamiert wird, sondern dass der Sinn, mit dem wir uns in der realen Welt orientieren […] zerstört wird.“{3} Daher wenden wir uns totalitären Fiktionen zu, die wir als „sechsten Sinn“ empfinden, damit unsere Vorstellungskraft uns hilft, die „natürlichen und historischen Gesetze“ zu erkennen, die unter der Oberfläche lauern.

In unserer modernen, von „alternativen Fakten“, Verschwörungstheorien und „Fake News“ geprägten postfaktischen Zeit bekommen Arendts Worte eine neue Relevanz – nicht zuletzt, weil sie den Mut hatte, das Bemühen der Mächtigen um ein Verwischen der Unterschiede zwischen richtig und falsch zu entlarven. Lesen wir Arendt heute, kommt uns unmittelbar die Stimmung in den sozialen Medien und die von vielen formulierte Aufforderung, die „rote Pille“ zu nehmen, in den Sinn. Während der endlosen ersten Welle der Covid-19-Pandemie twitterte Elon Musk im Juli 2020 – vom Interesse getrieben, seine Fabriken in Kalifornien gesetzeswidrig wieder zu öffnen: „Nehmt die rote Pille!“ Viele, darunter Ivanka Trump, antworteten: „Genommen!“{4} Die „rote Pille“ ist natürlich eine Fiktion, eine Anspielung auf den Film Matrix. In einer Szene bietet Morpheus, der Anführer einer aufständischen Gruppe von Hacker*innen, Neo, dem Helden der Geschichte, zwei Pillen an: Die blaue Pille wird jegliche Erinnerung an ihre Begegnung löschen, die rote Pille hingegen die Wahrheit offenbaren. Neo entscheidet sich für die rote Pille, da er spürt, dass etwas in seiner Welt nicht stimmt – einer Welt, in der auch das Publikum lebt. Neo „erwacht“ daraufhin erst im wahren (Alb-)Traum, denn „unsere“ Welt ist nichts weiter als eine Computersimulation.

 

In einer interessanten Wendung ist die ursprünglich aktive Entscheidung für die rote oder die blaue Pille heute zu einem passiven Akt geworden: „Nehmt die rote Pille!“, lautet der Befehl – und er wird befolgt.

Doch welches Problem wollen wir lösen, wenn wir „die rote Pille nehmen“? Hier müssen wir über Arendt hinausdenken, denn ihr Lob der Freiheit als heroischem griechischem Kampf zwischen gleichen und freien Männern wurde ja erst durch die aktive Unterwerfung von Frauen und Sklav*innen möglich. Überdies verwischt das aufgrund der Fake News verliehene Etikett „post truth“ in der Welt „nach der Wahrheit“ die Unterschiede zwischen Wahrheit, Fakten, Authentizität und Medien. Zwar besteht ein Zusammenhang zwischen Fakt und Wahrheit, doch austauschbar sind sie nicht. Das Wort Faktum leitet sich vom lateinischen facere (tun, machen) ab, während der moderne Fakt auf die Praxis der doppelten Buchführung des Frühkapitalismus zurückgeht (das heißt auf eine Zeit, in der Ordnung und numerische Darstellung essenzielle Elemente der Buchhaltung waren, welche die ihnen zugeschriebene empirische Faktizität der Zahlen erst ermöglichte).{5} Wahrheit – im Englischen truth – ist etymologisch verbunden mit dem Begriff trust (Vertrauen). Authentizität besitzt – wie Autorität, Autor*innenschaft und Autoritarismus – eine historische Bindung an die dramatische Selbsterschaffung und Rhetorik.{6} Wir müssen also nicht nur korrekt vorgehen und akkurat formulieren – der Faktencheck ist zwar wichtig, jedoch erschreckend unwirksam bei der Widerlegung von Verschwörungstheorien oder Fake News –, sondern auch die Frage beantworten, warum Menschen unabhängig vom Wahrheitsgehalt einer Sache etwas für wahr halten. Bezeichnenderweise wurde den US-Wahlen des Jahres 2016 ein hohes Maß an „Fake-News“ wie gleichzeitig auch an Authentizität bescheinigt, was – je nach Sichtweise des politischen Lagers – auch dem Wahlsieger selbst zugesprochen wurde.

„Redpilling“ („Die rote Pille nehmen“)ist in diesem Zusammenhang ein auf drei Ebenen wirksames Konzept: Erstens vermittelt es, wie unsere auf scheinbar konsistenten technologischen Codes und Wissen basierenden digitalen Systeme als Tempel der modernen Medizin konstruiert wurden, um der palliativen Hoffnung für einen kranken sozialen Körper immer wieder Unterschlupf zu gewähren. Paranoia hält diese Systeme auf gefährliche Weise aufrecht. Riskant ist daher weder das Hinterfragen noch die Kritik – beides zentrale Faktoren für die Demokratie –, sondern ihre Verwandlung in die tiefe Überzeugung von der Richtigkeit verborgener Quellen. Zweitens stärkt Redpillingdie Bedeutung vernetzter Nachbarschaften und die Bildung der Echokammern, die die offenen Geheimnisse bergen. Die „rote Pille“ wird auf Befehl oder Vorschlag von anderen genommen, denen man traut, weil sie die eigenen Zweifel teilen, weil ihnen gefällt, was man selbst mag, weil sie so authentisch sind wie man selbst. Schließlich verweisen Redpillingund Matrix auf die absurd falschen Identifikationen, welche die Gesellschaft polarisieren und leicht in eine andere Bahn lenken können. Der Film Matrix von 1999 war nicht zur Rekrutierung für QAnon gedacht, sondern galt vielmehr als Aufruf an das Publikum, sich von repressiver Ideologie zu befreien. Matrixhandelt von Sklaverei, von radikalen Bürger*innenrechtsbewegungen und der Bürde des weißen Mannes. In der im Medium Film vermittelten Identifikation mit „anderen“ – mit der in historisch rassistischen Begriffen beschriebenen versklavten Menschheit, mit der weisen, alten Schwarzen Frau als Orakel, mit Zion, der Stadt der freien Menschen – offenbart sich das Ausmaß, in dem die konspirativen und konservativen Visionen der Emanzipation heute durch „Entidentifikation“ mit den Unterdrückten funktionieren. Er spielt mit einem toxischen Befreiungsneid, der helfen soll, bürgerliche Freiheiten zu überwinden, indem man angeblich von seinen Held*innen „lernt“ und letztlich an ihre Stelle tritt.

Was wäre also, wenn wir – die Künstler*innen, Gestalter*innen, die Öffentlichkeit – einmal hinter die Kulissen blicken und die nur schlecht verborgene Gewalt und Diskriminierung um uns herum zur Kenntnis nehmen würden? Was wäre, wenn wir uns auf das Leben, die Träume und Erfahrungen dieser Held*innen einließen, nicht, um selbst ihre Stelle einzunehmen, sondern um gemeinsam die Welt zu schaffen, in der sie leben wollen? Diese Frage hat unmittelbar mit der Ontologie des Designs zu tun. Schließlich ist, wie Arturo Escobar so treffend formuliert, „Design ein Schlüsselfaktor in unserer Entwicklung, denn die Praxis der von uns gestalteten Objekte und Werkzeuge impliziert die Forderung an uns, etwas zu leisten.“{7} An dieser Stelle kehren wir zu Hannah Arendt zurück und erkennen die Düsternis unserer Zeit als eine Chance, sie ins Licht zu rücken: als eine Möglichkeit der Erleuchtung.

 

 

Quellen:

{1}   Hannah Arendt, „Lying in Politics: Reflections on the Pentagon Papers“, in: The New York Review, 18. November 1971.

{2}   Hannah Arendt, The Origins of Totalitarianism, New York, NY: Schocken Books, 2004, S. 351.

{3}   Hannah Arendt, Between Past and Future. Eight Exercises in Political Thought, New York, NY: The Viking Press, 1968, S. 257.

{4}   Sonia Rao, „How the red pill got to Elon Musk: A brief look back at public figures co-opting ,The Matrix‘“, in: The Washington Post, abrufbar unter: https://www.washingtonpost.com/arts-entertainment/2020/05/18/elon-musk-ivanka-trump-matrix-red-pill (zuletzt abgerufen am 27. Oktober 2020).

{5}   Mary Poovey, A History of the Modern Fact: Problems of Knowledge in the Sciences of Wealth and Society, Chicago, IL: The University of Chicago Press, 1998, S. 29–91.

{6}   Zum Verhältnis zwischen Wahrheit und Vertrauen siehe Steven Shapin, A Social History of Truth: Civility and Science in Seventeenth-Century England, Chicago, IL: The University of Chicago Press, 1995, S. 3–4.

{6}   Arturo Escobar, Designs for the Pluriverse: Radical Interdependence, Autonomy, and the Making of Worlds, London: Duke University Press, 2018, S. 30.