aA aA
abc abc
EN DE
Das dämonische und das ambitionierte Selbst

 

2018 veröffentlicht der Schriftsteller und Chaosmagie-Forscher Gary Lachman (Ex-Mitglied von Blondie) ein Buch mit dem Titel Dark Star Rising, in dem er den Einfluss von Okkultist*innen auf die Politik der heutigen Rechten nachzeichnet. Er beschreibt das Interesse prominenter Vertreter*innen des reaktionären Ökosystems am als Traditionalismus bekannt gewordenen Glaubenssystem. Lachman sieht den russischen Esoteriker und gern als Wladimir Putins Rasputin bezeichneten faschistischen Schriftsteller Aleksandr Dugin ebenso wie Donald Trumps einstige rechte Hand Steve Bannon, Anhänger des italienischen reaktionären Okkultisten Julius Evola, als überzeugt vom wichtigsten Prinzip des Traditionalismus: Alle großen Religionen dieser Welt gründen auf einer einzigen Quelle geheimen Wissens, das durch ausgewählte Eingeweihte weitergegeben wird. Für Lachman wie für die von ihm beschriebenen Okkultist*innen ist die Welt der magischen und mystischen Kräfte unauflöslich mit der Welt der Wahlen und der Propaganda verwoben. Die Magie der Meme ist, wie Aleister Crowleys Chaosmagie oder Helena Blavatskys Theosophie, eine mächtige, unsichtbare Kraft, die das Universum am Leben hält.

Im Zentrum von Lachmans Argumentation steht die Figur des Donald Trump selbst: nicht als Magier, sondern als Golem, das von Menschen geschaffene menschliche Wesen der jüdischen rabbinischen Mythologie, das existiert, um den Willen seiner Schöpfer zu erfüllen. Durch Meme-Magie ins Amt katapultiert, ist Trump, so argumentiert Lachman, weniger ein eigenständiges menschliches Wesen als ein amalgamierter Avatar des kulturellen Bewusstseins, der durch die Kraft unseres vereinten kulturellen Hungers nach Chaos ins Leben gerufen wurde, um die alte neoliberale Ordnung und ihre Institutionen zu zerstören.

Ob wir nun Okkultist*innen sind oder nicht, können wir in Lachmans Lesart von Propaganda als „Magie“ etwas Wesentliches über die Welt der modernen Internetkultur erfahren. Denn diese wird, auch wenn sie auf gewissermaßen mysteriöse Weise unser wirtschaftliches und politisches Leben in der „realen Welt“ beeinflusst, selbst von unsichtbaren Kräften – den Literalisierungen des kollektiven bewussten und unbewussten Begehrens – gesteuert.

Dies meine ich nicht nur im Sinne von Arthur C. Clarke, der 1962 den berühmt gewordenen Satz formulierte, dass „jede hinreichend fortschrittliche Technologie von Magie nicht zu unterscheiden ist“. Magie ist nicht einfach das, was wir Technologie nennen, bevor wir sie begreifen.

In der Internetkultur unserer Zeit, in der Erschaffung digitaler Avatare, in der freilaufenden Verehrung des sich-selbst-Schaffens, in der „Aufmerksamkeitsökonomie“, die fast alle Aspekte unseres sozialen, sexuellen und wirtschaftlichen Lebens durchdringt, manifestiert sich vielmehr eine Literalisierung (und Exteriorisierung) einer Wahrheit, die dem liberal-kapitalistischen, postaufklärerischen Verständnis des Selbst innewohnt. Was in dieser Formulierung von uns bleibt, ist das Verlangen, das uns zu mehr als reinen Maschinen macht.

Auch ohne den metaphysischen Status dieses Verlangens einzufordern, können wir argumentieren, dass in anderen religiösen oder spirituellen Systemen das Wollen – aus funktionaler Perspektive gesehen – an die Stelle der Seele tritt, als unsichtbare und doch konstitutive Kraft des Selbst. Ebenso unsichtbar, doch grundlegend für unseren Umgang miteinander, sind die Kräfte, durch die sie sich in der Gesellschaft manifestieren. Funktional wirken sie als Äquivalent zur Magie.

Nach dieser scheinbar säkularen, modernen Sichtweise haben wir keine Seele, die etwas vollkommen von unserem Körper Getrenntes oder zumindest nichts rein materiell Verkörpertes wäre. Was also macht uns in dieser Sichtweise zum Menschenwesen – im Gegensatz zum menschlichen Tier? Wo ist der Geist in unseren Maschinen? Die Antwort in der späten Internetkultur findet sich in unserem ambitionierten Selbst: dem Selbst, das nicht durch unsere imaginierte Zukunft, sondern durch unsere verkörperte Gegenwart konstituiert wird.

Dieser unausgegorenen Qualität verleihen wir eine Art mystische Kraft, ein metaphysisches Gewicht. Unsere Sehnsüchte bilden den Kern unseres „authentischen“ Selbst; sie machen uns zu dem, was wir „wirklich“ sind. Dabei ist dieses Selbst nicht statisch, sondern dynamisch: Es ist das, was wir wollen, wonach wir hungern, was wir begehren, wonach wir streben – etwas, in das wir Leben einhauchen, und was gleichzeitig uns Leben einhaucht.

Unser ambitioniertes Selbst ist die Apotheose des kapitalistischen Projekts. Es ist ein Selbst, dessen Wünsche nicht nur unser eigenes Handeln bestimmen, sondern den gesamten sozialen und ökonomischen Apparat.

Wenn wir in diesem Schema einen telos haben, dann liegt dieses Ziel darin, das zu erreichen, wonach wir streben. Durch das magische Handeln des Willens entscheiden wir überdies, was wir überhaupt anstreben. Unser höchstes Ziel ist die Produktion des eigenen Selbst. Wir entscheiden, was wir wollen, und folgen dann unseren Wünschen.

Beherrscht vom ambitionierten Selbst sind wir „authentisch“, also dann am meisten wir selbst, wenn wir zu unseren Wünschen stehen, wenn wir sie zelebrieren. Denn sie sind für uns wahrer als zufällige, uns durch Umstände wie Klasse, Geschlecht oder Kultur vermittelte Qualitäten. In Das Unbehagen an der Moderne (1991 unter dem Titel The Ethics of Authenticity erschienen) argumentiert der politische Philosoph Charles Taylor, dass die Spannungen der zeitgenössischen Moderne durch eine Romantisierung des „authentischen“ Selbst sowie die Verbindung zwischen diesem authentischen Selbst und unseren Bestrebungen definiert werden. Ich möchte noch weitergehen und behaupte, dass diese „Authentizität“ zwar mit einer säkularen Seele verwandt ist und sowohl einen konkreten nicht-physischen Status als auch ausgeprägte kreative Kräfte aufweist, jedoch nicht nur ein Teil von uns, dem menschlichen Tier ist, sondern die primäre nicht-physische Triebkraft innerhalb unserer Welt darstellt. Anders gesagt: Der Wunsch ist Magie, wenn auch von einer dämonischen Art. Der Wunsch erschafft aus dem Nichts; er transformiert; er erlaubt, uns nach den von uns ersehnten Bildern neu zu gestalten. Er ist die verborgene Hand. Er ist der Glamour, der Verwandlung möglich macht. Er ist der Atem in unserer Lunge.

Auftritt des World Wide Web. Ein ganzes System, das auf der Illusion der Entkörperlichung beruht; ein Raum für Avatare und Meme, für Onlineshopping und Catfishing; für das Swipen und für sexuelle Befriedigung, losgelöst vom realen Fleisch. Der Onlineraum ist der Ort, an dem unsere Sehnsüchte Gestalt annehmen und Gewicht bekommen. Es ist der Ort, an dem wir alles sein und alles kaufen können, an dem sich Aufmerksamkeit durch Werbung und die Clickbait-Ökonomie, die unser Entertainment begleiten, in eine Ware verwandelt. Hier wird Aufmerksamkeit erworben und veräußert: durch das Klicken auf die richtigen Artikel, durch das Teilen der richtigen Schlagzeilen mit den richtigen Freund*innen in den sozialen Medien, durch das Posten von Fotos von uns selbst oder von markigen, karrierefördernden Witzen. Oder aber durch das nicht minder erstrebenswerte Vergnügen, die OnlyFans-Inhalte einer schönen Frau zu abonnieren, die uns Nähe vorspiegelt, indem sie uns gestattet, uns in ihrer Gesellschaft zu präsentieren. Es ist ein karnevalistisches Funhouse-Universum: ein Ort, an dem Sehnsüchte – unabhängig von Geografie oder Faktizität – vielleicht nicht umfassend erfüllt, jedoch zumindest vorübergehend befriedigt werden können. Es ist, nicht weniger als Avalon, Atlantis, der Markt der Kobolde oder jede andere parallele Märchenwelt, in die man versehentlich gelangt, ein magisches Universum. Doch wie alle Märchenwelten hat auch unsere einen Haken.

Der dämonische Deal wird nie zu unseren Gunsten aufgelöst. Die Fantasie des ambitionierten Selbst ist, dass wir die ultimative Freiheit haben, zu entscheiden, wer wir sein wollen, und unser Leben nach unseren Wünschen zu führen. Was könnte uns selbst gegenüber wahrer sein? Aber entscheiden wir wirklich, was wir wollen? Sind unsere Wünsche wirklich die authentischsten Teile von uns, der Bereich des Lebens, in dem wir konkret frei sind? Der heilige Augustinus zum Beispiel dachte anders: Für ihn, wie für viele christliche Theolog*innen über die Jahrhunderte, lag die Wurzel der Sünde in der ungeordneten Natur unserer Wünsche, in der Art und Weise, wie wir wollen, was wir nicht sollen, und ersehnen, was wir nicht wollen, und nicht verstehen, warum wir (überhaupt) das wollen, was wir wollen.

Unabhängig davon, ob wir nun mit Augustinus übereinstimmen oder nicht, müssen wir uns mit der Tatsache auseinandersetzen, dass unsere Wünsche nie völlig sui generis sind.

Wir wissen nie, ob das, was wir wollen, das ist, was wir tatsächlich wollen, oder das, von dem wir denken, dass wir es wollen.

Was ist der Unterschied zwischen beidem? Ist unser Wunsch, eine Zigarette zu rauchen, realer als unser Wunsch, einen Marathon laufen zu können? Was bedeutet Begehren, wenn die Wünsche widersprüchlich sind, oder wenn wir kurzfristig etwas wollen, von dem wir wissen, dass es langfristig schlecht für uns ist?

Darüber hinaus lehrt man uns, was unser Begehr sein soll. Trotz der Tatsache, dass wir Wünsche oft als ursprünglich oder intrinsisch kodieren – und sie in Freud’scher Gegensatzpaarung gegen die „zivilisierende“ repressive Kultur stellen –, werden unsere Wünsche durch ebendiese Kultur vermittelt. Schließlich sind wir kontingente Individuen und leben in einer Gesellschaft, in der wir das Verständnis von uns selbst, unseren Nachbar*innen und unserer Umgebung durch einen kulturell geprägten Fundus (von Geschichten, Bildern und Erzählungen) erwerben. Wir greifen auf unsere als „ursprünglich“ klassifizierten Wünsche nur in der Brechung der uns zur Verfügung stehenden Narrative zu. Wir wünschen uns in der Regel nicht das Abstrakte – die blaue Schleife oder eine goldfarbene Trophäe. Wichtig ist vielmehr, dass diese den Gewinn eines ersten Preises in einem Turnier repräsentieren. Genauso verhält es sich mit der kodierten Sprache der Statussymbole – dem Rolls-Royce, der Birkin-Tasche –, in der die Wünsche nur in Bezug auf unser gemeinsames Verständnis von dem, was sie repräsentieren, lesbar sind.

Aber auch weniger offensichtliche Sehnsüchte funktionieren auf diese Weise. Nehmen wir einen Mann, der sich in eine konventionell schöne Frau verliebt, eine Absolventin einer renommierten Universität. Seine Liebe zu ihr mag er als echt empfinden; die sexuelle Attraktivität mag ihm natürlich erscheinen. Aber ist er überhaupt in der Lage, sie zu erkennen? Liebt er sie für das, was sie ist, oder einfach nur, weil sie Eigenschaften besitzt, von denen er weiß, dass sie wertvoll sind, und die ihn selbst, ihren vermeintlichen Eroberer, aufwerten? Wir wollen oft das, was andere wollen – das, von dem wir gelernt haben, dass es erstrebenswert ist, weil andere es für gut (oder prestigeträchtig) halten. Unser Begehren ist – wie der Religionswissenschaftler René Girard so oft geschrieben hat – mimetisch.

In der Welt der Meme, in der wir dieses Begehren in leicht kalkulierbare Likes und Follower*innen destilliert sehen, sind wir umso anfälliger für die Prägung (und Neuprägung) unseres Begehrens. Wir lernen, was die Masse für „wünschenswert“ hält, und das prägt unsere eigenen Interessen. Dabei werden wir von Algorithmen unterstützt, die uns im Internet folgen und uns mit Bildern von Produkten locken, die bereits andere aus unserer jeweiligen Marketing-Demografie interessant fanden. In dieser Situation ist jede Authentizität, die unsere Wünsche in einem hypothetischen Naturzustand vielleicht hatten, bereits verloren; unsere sehnsüchtigen Seelen wurden bereits von Kräften außerhalb unserer selbst verzaubert.

Wir definieren uns heute über Wünsche, die wir nicht persönlich steuern. Weit davon entfernt, unser Innerstes zu offenbaren, sind sie zu unseren Ketten geworden.

Ein albtraumhafter Zustand – auf den ersten Blick. Denn er suggeriert, dass uns jeglicher eigene Wille fehlt, dass wir nicht autonom sind. Doch erscheint diese Bindung an das Verlangen zugleich als Double potenzieller Intimität. Wir sind, wie der Mystiker Pater Zosima zu Alexej Karamasow sagte, füreinander und für alles verantwortlich. Unwillentlich vielleicht realisieren wir die Wünsche anderer, auch wenn wir unsere eigenen Wünsche längst nicht mehr eigenständig formulieren. Dies ist eine Macht, die viel größer (und gefährlicher) ist als der schiere Wille; eine Macht, die wir nicht gewählt haben (und nicht wählen können).

 

Die Ironie des ambitionierten Selbst ist gleichwohl, dass seine Macht, sich selbst zu erschaffen, begrenzt ist, während sich die Macht, andere zu prägen, als erschreckend groß darstellt. Wir sind nicht am mächtigsten, wenn wir unsere eigenen Bilder erschaffen, sondern wenn wir die Überzeugungen, Wünschen und Realitäten anderer gestalten. In einem kürzlich erschienenen Artikel der Huffington Post über die Allgegenwart von Facetune bei jungen Frauen wurde berichtet, dass fast alle Poweruserinnen süchtig nach dieser App zur Fotobearbeitung wurden, mit der sie sich konventionellen Schönheitsidealen entsprechend präsentieren können, nachdem sie mit ihr produzierte Bilder von perfekt proportionierten Frauen im Netz sahen. Jede Frau, die ein Facetuned-Selfie postete, wurde damit Teil eines beklemmenden Multi-Level-Marketing-Systems – und zugleich verantwortlich für andere User*innen, die die App einsetzen.

In der heutigen vom Internet geprägten Aufmerksamkeitsökonomie mag es schwierig sein, sich diesem Kreislauf gänzlich zu entziehen. Wenn wir jedoch zu unserer Verantwortung füreinander stehen, könnten wir unser Verhältnis zum Internet neu konzipieren: das Internet nicht als Leinwand, auf der wir uns selbst erschaffen, sondern als ein Netz, durch das wir an unserer gegenseitigen Befreiung arbeiten, als ein Vehikel für soziale statt für individuelle Transformation.

Indem wir die Wünsche anderer formen, gestalten wir gleichzeitig einen Teil dessen, was diese anderen sind. Dies ist eine magische Kraft, um die wir nicht gebeten haben. Aber es mag gleichwohl die Kraft sein, die wir nutzen müssen.

Das dämonische und das ambitionierte Selbst
Tara Isabella Burton

 

2018 veröffentlicht der Schriftsteller und Chaosmagie-Forscher Gary Lachman (Ex-Mitglied von Blondie) ein Buch mit dem Titel Dark Star Rising, in dem er den Einfluss von Okkultist*innen auf die Politik der heutigen Rechten nachzeichnet. Er beschreibt das Interesse prominenter Vertreter*innen des reaktionären Ökosystems am als Traditionalismus bekannt gewordenen Glaubenssystem. Lachman sieht den russischen Esoteriker und gern als Wladimir Putins Rasputin bezeichneten faschistischen Schriftsteller Aleksandr Dugin ebenso wie Donald Trumps einstige rechte Hand Steve Bannon, Anhänger des italienischen reaktionären Okkultisten Julius Evola, als überzeugt vom wichtigsten Prinzip des Traditionalismus: Alle großen Religionen dieser Welt gründen auf einer einzigen Quelle geheimen Wissens, das durch ausgewählte Eingeweihte weitergegeben wird. Für Lachman wie für die von ihm beschriebenen Okkultist*innen ist die Welt der magischen und mystischen Kräfte unauflöslich mit der Welt der Wahlen und der Propaganda verwoben. Die Magie der Meme ist, wie Aleister Crowleys Chaosmagie oder Helena Blavatskys Theosophie, eine mächtige, unsichtbare Kraft, die das Universum am Leben hält.

Im Zentrum von Lachmans Argumentation steht die Figur des Donald Trump selbst: nicht als Magier, sondern als Golem, das von Menschen geschaffene menschliche Wesen der jüdischen rabbinischen Mythologie, das existiert, um den Willen seiner Schöpfer zu erfüllen. Durch Meme-Magie ins Amt katapultiert, ist Trump, so argumentiert Lachman, weniger ein eigenständiges menschliches Wesen als ein amalgamierter Avatar des kulturellen Bewusstseins, der durch die Kraft unseres vereinten kulturellen Hungers nach Chaos ins Leben gerufen wurde, um die alte neoliberale Ordnung und ihre Institutionen zu zerstören.

Ob wir nun Okkultist*innen sind oder nicht, können wir in Lachmans Lesart von Propaganda als „Magie“ etwas Wesentliches über die Welt der modernen Internetkultur erfahren. Denn diese wird, auch wenn sie auf gewissermaßen mysteriöse Weise unser wirtschaftliches und politisches Leben in der „realen Welt“ beeinflusst, selbst von unsichtbaren Kräften – den Literalisierungen des kollektiven bewussten und unbewussten Begehrens – gesteuert.

Dies meine ich nicht nur im Sinne von Arthur C. Clarke, der 1962 den berühmt gewordenen Satz formulierte, dass „jede hinreichend fortschrittliche Technologie von Magie nicht zu unterscheiden ist“. Magie ist nicht einfach das, was wir Technologie nennen, bevor wir sie begreifen.

In der Internetkultur unserer Zeit, in der Erschaffung digitaler Avatare, in der freilaufenden Verehrung des sich-selbst-Schaffens, in der „Aufmerksamkeitsökonomie“, die fast alle Aspekte unseres sozialen, sexuellen und wirtschaftlichen Lebens durchdringt, manifestiert sich vielmehr eine Literalisierung (und Exteriorisierung) einer Wahrheit, die dem liberal-kapitalistischen, postaufklärerischen Verständnis des Selbst innewohnt. Was in dieser Formulierung von uns bleibt, ist das Verlangen, das uns zu mehr als reinen Maschinen macht.

Auch ohne den metaphysischen Status dieses Verlangens einzufordern, können wir argumentieren, dass in anderen religiösen oder spirituellen Systemen das Wollen – aus funktionaler Perspektive gesehen – an die Stelle der Seele tritt, als unsichtbare und doch konstitutive Kraft des Selbst. Ebenso unsichtbar, doch grundlegend für unseren Umgang miteinander, sind die Kräfte, durch die sie sich in der Gesellschaft manifestieren. Funktional wirken sie als Äquivalent zur Magie.

Nach dieser scheinbar säkularen, modernen Sichtweise haben wir keine Seele, die etwas vollkommen von unserem Körper Getrenntes oder zumindest nichts rein materiell Verkörpertes wäre. Was also macht uns in dieser Sichtweise zum Menschenwesen – im Gegensatz zum menschlichen Tier? Wo ist der Geist in unseren Maschinen? Die Antwort in der späten Internetkultur findet sich in unserem ambitionierten Selbst: dem Selbst, das nicht durch unsere imaginierte Zukunft, sondern durch unsere verkörperte Gegenwart konstituiert wird.

Dieser unausgegorenen Qualität verleihen wir eine Art mystische Kraft, ein metaphysisches Gewicht. Unsere Sehnsüchte bilden den Kern unseres „authentischen“ Selbst; sie machen uns zu dem, was wir „wirklich“ sind. Dabei ist dieses Selbst nicht statisch, sondern dynamisch: Es ist das, was wir wollen, wonach wir hungern, was wir begehren, wonach wir streben – etwas, in das wir Leben einhauchen, und was gleichzeitig uns Leben einhaucht.

Unser ambitioniertes Selbst ist die Apotheose des kapitalistischen Projekts. Es ist ein Selbst, dessen Wünsche nicht nur unser eigenes Handeln bestimmen, sondern den gesamten sozialen und ökonomischen Apparat.

Wenn wir in diesem Schema einen telos haben, dann liegt dieses Ziel darin, das zu erreichen, wonach wir streben. Durch das magische Handeln des Willens entscheiden wir überdies, was wir überhaupt anstreben. Unser höchstes Ziel ist die Produktion des eigenen Selbst. Wir entscheiden, was wir wollen, und folgen dann unseren Wünschen.

Beherrscht vom ambitionierten Selbst sind wir „authentisch“, also dann am meisten wir selbst, wenn wir zu unseren Wünschen stehen, wenn wir sie zelebrieren. Denn sie sind für uns wahrer als zufällige, uns durch Umstände wie Klasse, Geschlecht oder Kultur vermittelte Qualitäten. In Das Unbehagen an der Moderne (1991 unter dem Titel The Ethics of Authenticity erschienen) argumentiert der politische Philosoph Charles Taylor, dass die Spannungen der zeitgenössischen Moderne durch eine Romantisierung des „authentischen“ Selbst sowie die Verbindung zwischen diesem authentischen Selbst und unseren Bestrebungen definiert werden. Ich möchte noch weitergehen und behaupte, dass diese „Authentizität“ zwar mit einer säkularen Seele verwandt ist und sowohl einen konkreten nicht-physischen Status als auch ausgeprägte kreative Kräfte aufweist, jedoch nicht nur ein Teil von uns, dem menschlichen Tier ist, sondern die primäre nicht-physische Triebkraft innerhalb unserer Welt darstellt. Anders gesagt: Der Wunsch ist Magie, wenn auch von einer dämonischen Art. Der Wunsch erschafft aus dem Nichts; er transformiert; er erlaubt, uns nach den von uns ersehnten Bildern neu zu gestalten. Er ist die verborgene Hand. Er ist der Glamour, der Verwandlung möglich macht. Er ist der Atem in unserer Lunge.

Auftritt des World Wide Web. Ein ganzes System, das auf der Illusion der Entkörperlichung beruht; ein Raum für Avatare und Meme, für Onlineshopping und Catfishing; für das Swipen und für sexuelle Befriedigung, losgelöst vom realen Fleisch. Der Onlineraum ist der Ort, an dem unsere Sehnsüchte Gestalt annehmen und Gewicht bekommen. Es ist der Ort, an dem wir alles sein und alles kaufen können, an dem sich Aufmerksamkeit durch Werbung und die Clickbait-Ökonomie, die unser Entertainment begleiten, in eine Ware verwandelt. Hier wird Aufmerksamkeit erworben und veräußert: durch das Klicken auf die richtigen Artikel, durch das Teilen der richtigen Schlagzeilen mit den richtigen Freund*innen in den sozialen Medien, durch das Posten von Fotos von uns selbst oder von markigen, karrierefördernden Witzen. Oder aber durch das nicht minder erstrebenswerte Vergnügen, die OnlyFans-Inhalte einer schönen Frau zu abonnieren, die uns Nähe vorspiegelt, indem sie uns gestattet, uns in ihrer Gesellschaft zu präsentieren. Es ist ein karnevalistisches Funhouse-Universum: ein Ort, an dem Sehnsüchte – unabhängig von Geografie oder Faktizität – vielleicht nicht umfassend erfüllt, jedoch zumindest vorübergehend befriedigt werden können. Es ist, nicht weniger als Avalon, Atlantis, der Markt der Kobolde oder jede andere parallele Märchenwelt, in die man versehentlich gelangt, ein magisches Universum. Doch wie alle Märchenwelten hat auch unsere einen Haken.

Der dämonische Deal wird nie zu unseren Gunsten aufgelöst. Die Fantasie des ambitionierten Selbst ist, dass wir die ultimative Freiheit haben, zu entscheiden, wer wir sein wollen, und unser Leben nach unseren Wünschen zu führen. Was könnte uns selbst gegenüber wahrer sein? Aber entscheiden wir wirklich, was wir wollen? Sind unsere Wünsche wirklich die authentischsten Teile von uns, der Bereich des Lebens, in dem wir konkret frei sind? Der heilige Augustinus zum Beispiel dachte anders: Für ihn, wie für viele christliche Theolog*innen über die Jahrhunderte, lag die Wurzel der Sünde in der ungeordneten Natur unserer Wünsche, in der Art und Weise, wie wir wollen, was wir nicht sollen, und ersehnen, was wir nicht wollen, und nicht verstehen, warum wir (überhaupt) das wollen, was wir wollen.

Unabhängig davon, ob wir nun mit Augustinus übereinstimmen oder nicht, müssen wir uns mit der Tatsache auseinandersetzen, dass unsere Wünsche nie völlig sui generis sind.

Wir wissen nie, ob das, was wir wollen, das ist, was wir tatsächlich wollen, oder das, von dem wir denken, dass wir es wollen.

Was ist der Unterschied zwischen beidem? Ist unser Wunsch, eine Zigarette zu rauchen, realer als unser Wunsch, einen Marathon laufen zu können? Was bedeutet Begehren, wenn die Wünsche widersprüchlich sind, oder wenn wir kurzfristig etwas wollen, von dem wir wissen, dass es langfristig schlecht für uns ist?

Darüber hinaus lehrt man uns, was unser Begehr sein soll. Trotz der Tatsache, dass wir Wünsche oft als ursprünglich oder intrinsisch kodieren – und sie in Freud’scher Gegensatzpaarung gegen die „zivilisierende“ repressive Kultur stellen –, werden unsere Wünsche durch ebendiese Kultur vermittelt. Schließlich sind wir kontingente Individuen und leben in einer Gesellschaft, in der wir das Verständnis von uns selbst, unseren Nachbar*innen und unserer Umgebung durch einen kulturell geprägten Fundus (von Geschichten, Bildern und Erzählungen) erwerben. Wir greifen auf unsere als „ursprünglich“ klassifizierten Wünsche nur in der Brechung der uns zur Verfügung stehenden Narrative zu. Wir wünschen uns in der Regel nicht das Abstrakte – die blaue Schleife oder eine goldfarbene Trophäe. Wichtig ist vielmehr, dass diese den Gewinn eines ersten Preises in einem Turnier repräsentieren. Genauso verhält es sich mit der kodierten Sprache der Statussymbole – dem Rolls-Royce, der Birkin-Tasche –, in der die Wünsche nur in Bezug auf unser gemeinsames Verständnis von dem, was sie repräsentieren, lesbar sind.

Aber auch weniger offensichtliche Sehnsüchte funktionieren auf diese Weise. Nehmen wir einen Mann, der sich in eine konventionell schöne Frau verliebt, eine Absolventin einer renommierten Universität. Seine Liebe zu ihr mag er als echt empfinden; die sexuelle Attraktivität mag ihm natürlich erscheinen. Aber ist er überhaupt in der Lage, sie zu erkennen? Liebt er sie für das, was sie ist, oder einfach nur, weil sie Eigenschaften besitzt, von denen er weiß, dass sie wertvoll sind, und die ihn selbst, ihren vermeintlichen Eroberer, aufwerten? Wir wollen oft das, was andere wollen – das, von dem wir gelernt haben, dass es erstrebenswert ist, weil andere es für gut (oder prestigeträchtig) halten. Unser Begehren ist – wie der Religionswissenschaftler René Girard so oft geschrieben hat – mimetisch.

In der Welt der Meme, in der wir dieses Begehren in leicht kalkulierbare Likes und Follower*innen destilliert sehen, sind wir umso anfälliger für die Prägung (und Neuprägung) unseres Begehrens. Wir lernen, was die Masse für „wünschenswert“ hält, und das prägt unsere eigenen Interessen. Dabei werden wir von Algorithmen unterstützt, die uns im Internet folgen und uns mit Bildern von Produkten locken, die bereits andere aus unserer jeweiligen Marketing-Demografie interessant fanden. In dieser Situation ist jede Authentizität, die unsere Wünsche in einem hypothetischen Naturzustand vielleicht hatten, bereits verloren; unsere sehnsüchtigen Seelen wurden bereits von Kräften außerhalb unserer selbst verzaubert.

Wir definieren uns heute über Wünsche, die wir nicht persönlich steuern. Weit davon entfernt, unser Innerstes zu offenbaren, sind sie zu unseren Ketten geworden.

Ein albtraumhafter Zustand – auf den ersten Blick. Denn er suggeriert, dass uns jeglicher eigene Wille fehlt, dass wir nicht autonom sind. Doch erscheint diese Bindung an das Verlangen zugleich als Double potenzieller Intimität. Wir sind, wie der Mystiker Pater Zosima zu Alexej Karamasow sagte, füreinander und für alles verantwortlich. Unwillentlich vielleicht realisieren wir die Wünsche anderer, auch wenn wir unsere eigenen Wünsche längst nicht mehr eigenständig formulieren. Dies ist eine Macht, die viel größer (und gefährlicher) ist als der schiere Wille; eine Macht, die wir nicht gewählt haben (und nicht wählen können).

 

Die Ironie des ambitionierten Selbst ist gleichwohl, dass seine Macht, sich selbst zu erschaffen, begrenzt ist, während sich die Macht, andere zu prägen, als erschreckend groß darstellt. Wir sind nicht am mächtigsten, wenn wir unsere eigenen Bilder erschaffen, sondern wenn wir die Überzeugungen, Wünschen und Realitäten anderer gestalten. In einem kürzlich erschienenen Artikel der Huffington Post über die Allgegenwart von Facetune bei jungen Frauen wurde berichtet, dass fast alle Poweruserinnen süchtig nach dieser App zur Fotobearbeitung wurden, mit der sie sich konventionellen Schönheitsidealen entsprechend präsentieren können, nachdem sie mit ihr produzierte Bilder von perfekt proportionierten Frauen im Netz sahen. Jede Frau, die ein Facetuned-Selfie postete, wurde damit Teil eines beklemmenden Multi-Level-Marketing-Systems – und zugleich verantwortlich für andere User*innen, die die App einsetzen.

In der heutigen vom Internet geprägten Aufmerksamkeitsökonomie mag es schwierig sein, sich diesem Kreislauf gänzlich zu entziehen. Wenn wir jedoch zu unserer Verantwortung füreinander stehen, könnten wir unser Verhältnis zum Internet neu konzipieren: das Internet nicht als Leinwand, auf der wir uns selbst erschaffen, sondern als ein Netz, durch das wir an unserer gegenseitigen Befreiung arbeiten, als ein Vehikel für soziale statt für individuelle Transformation.

Indem wir die Wünsche anderer formen, gestalten wir gleichzeitig einen Teil dessen, was diese anderen sind. Dies ist eine magische Kraft, um die wir nicht gebeten haben. Aber es mag gleichwohl die Kraft sein, die wir nutzen müssen.