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Peripheres Sehen

 

 

In Zusammenarbeit mit Yuval Levi (Bilder)

 

„Es kommt den Menschen nie in den Sinn, dass der Einsatz von Satelliten die Wahrnehmung der gesamten Menschheit verändern kann. Sie haben keine Theorie, die es ihnen erlauben würde, die Metamorphose zu begreifen. Wir nehmen die Satelliten wahr, ob wir sie nun begreifen oder nicht.“ (Marshall McLuhan)

Marshall McLuhan hat sehr früh die Auswirkungen neuer Technologien auf die Wahrnehmung und das Denken erkannt und damit den Begriff „Medien“ neu definiert. Mit einer viel größeren Zahl von Satelliten in der Umlaufbahn als 1970, dem Jahr der Veröffentlichung des zitierten Interviews, mögen wir fragen: Wie nehmen wir (ohne) Satelliten wahr? Könnte es sein, dass wir auch nach fünf Jahrzehnten Medientheorie noch immer die durch Medien verursachten Veränderungen der Wahrnehmung, die gewissermaßen vor unseren Augen und doch unsichtbar sind, nicht fassen können? Nicht nur Satelliten, sondern auch Computernetzwerke, Infrastrukturen und Sensoren „hinter“ den mobilen Geräten, Interfaces, Websites – Techniken, die vielleicht in keinem offensichtlichen Zusammenhang mit der Wahrnehmung stehen, sie aber dennoch (mit-) gestalten?

 

 

Zu den Grundannahmen der Medientheorie gehört, dass Medien etwas sichtbar (hörbar, wahrnehmbar) machen, aber „hinter“ dem Gesehenen und Gehörten, dem Bild, Lied oder der Geschichte verschwinden: „Wir hören nicht Luftschwingungen, sondern den Klang der Glocke; wir lesen nicht Buchstaben, sondern eine Geschichte.“ (Krämer 1998: 74). Die empirischen Wissenschaften bieten eine Erklärung dessen, wie Wahrnehmung sozusagen hinter der Bühne des Bewusstseins funktioniert: Schallwellen lassen sich messen, beschreiben, berechnen und visualisieren. Die neusten Techniken des Messens oder der Visualisierung der nicht bewussten Wahrnehmung scheinen dabei ganz neue Dimensionen zu entdecken, die alleine durch und in (digitalen) Technologien zugänglich werden. Die „nicht-bewusste Kognition“, wie sie Katherine Hayles (2017) charakterisiert, basiert auf dem Prozessieren von Daten, bei dem auch ein sichtbarer oder hörbarer Output generiert werden kann – Bilder, Töne, Graphen etc. – aber nicht muss. Mit dem bloßen Auge oder Ohr ist nichts zu sehen oder zu hören. Dass es vorreflexive oder unbewusste Prozesse gibt, die die (bewusste) Wahrnehmung bestimmten, haben bereits in unterschiedlicher Weise die Phänomenologie oder die Psychoanalyse gezeigt – neu ist jedoch, dass die nicht-bewusste Wahrnehmung, die durch digitale Technologien erschlossen wird, nicht mit dem (menschlichen) Bewusstsein in Bezug gesetzt werden muss. Nicht das Bewusstsein, das Subjekt, der Geist oder der Mensch prozessieren sozusagen die Wahrnehmungsdaten, sondern Maschinen, die nicht sehen oder hören, sondern rechnen.

 

 

Medien wären damit nicht nur Instrumente, die etwas zugänglich machen, was dem bloßen Auge verborgen bleibt, oder erlauben, besser zu sehen – kleinste Details oder weit Entferntes – sondern sie ließen etwas ganz anderes erkennen, als wir (Menschen) wahrnehmen können. Mehr noch machen sie überhaupt erst etwas denkbar und wahrnehmbar, was es ohne sie schlicht nicht gäbe: Verbindungen zwischen verschiedenen sozialen oder physikalischen Prozessen zum Beispiel, die weder beobachtbar sind, noch als Hypothese aufgrund bestehenden Wissens formuliert werden könnten, dessen Zusammenhang sich jedoch bei der Analyse großer Daten herausstellt (als Muster erkennbar wird). Mit den neuen Medien ließe sich dann hinterfragen, welche (alten) Medien die Idee eines „Bewusstseins“ hervorgebracht haben und wieso wir – in diesem Fall nicht die Gattung Mensch, sondern kulturell und historisch verortete konkrete Individuen – eigentlich sehen wie wir sehen, und sehend denken oder denkend sehen. Die Konsequenz eines solchen „Medienaprioris“, wie ihn Hayles nahelegt, wäre nicht anzunehmen, dass es ein „natürliches“ Sehen gibt, eine nichthistorisch und kulturell bedingte Wahrnehmung, ebenso wie Bewusstsein als ein Fakt, eine naturwissenschaftlich erschlossene Tatsache. Doch Hayles Argumentation ist inkonsequent: einerseits scheint sie Bewusstsein als ein „natürliches“ Phänomen, das die Kognitionswissenschaft erklärt, zu verstehen – und degradiert damit Medien zu bloßen Instrumenten, mit deren Hilfe neue, immer größere Teile der nicht-bewussten Kognition „ans Licht“, ins Bewusstsein gebracht werden können: sich beschreiben, berechnen, messen lassen.

Andererseits sind die (neuen) Fakten – Daten – allein digitalen Technologien zu verdanken, die zeigen und erklären, wie Kognition funktioniert, indem sie kognitive Prozesse messen, berechnen und simulieren lassen. Die Fakten/Daten werden technisch hergestellt.

Beim technischen Erkennen (recognition) handelt es sich nicht nur um Instrumente, die etwas Gegebenes – „Natürliches“ – beobachten, beschreiben, messen lassen, sondern um die Generierung von Daten, die es ohne entsprechende Technologien nicht gäbe.

Kognitive Prozesse sind das, was komputiert und simuliert werden kann. Die Konsequenz dieses „Medianaprioris“ wäre erstens die Hinterfragung der naturwissenschaftlichen Sicht auf Kognition, indem die vielfältigen Praktiken und Techniken in den Vordergrund rücken, ohne die es gar keine „Fakten“ gäbe – das Beobachten, Beschreiben, Messen, Visualisieren usw. – wie von Bruno Latour und anderen gezeigt worden ist. Zweitens ließe sich aber auch die Eigenart der neuen Technologien herausstellen, die die Wissenschaft selbst verändern – ja Technologie zur Grundlage von Wissen ebenso wie Kultur und Gesellschaft machen. Um jedoch diese Veränderungen überhaupt aufzeigen zu können, können die neuen Technologien nicht als nächste Stufe in der wissenschaftlichen Erschließung des menschlichen Geistes gedeutet werden, in einer Verbindung des „wissenschaftlichen (Fortschritts-)Glaubens“ und des „Medienaprioris“, sondern als historisch und kulturell bedingte Medien.

 

 

Die Kognitionswissenschaft bietet aber womöglich in einem ganz anderen Sinne als bei Hayles ein Modell des Sehens, das Medien in den Blick rückt. Das periphere Sehen bezieht sich auf nicht-intentionale oder unbewusste Wahrnehmung, die ein selbstverständlicher und dabei kaum bemerkter Teil des normalen Sehens ist. Tatsächlich sehen wir nur ein Prozent unseres Sichtfeldes in „hoher Auflösung“ (das sogenannte „foveale Sehen“), der andere Teil – bis zu einem Winkel von 180 Grad – ermöglicht uns, das gesamte Sichtfeld „abzubilden“ und uns auf die relevanten Teile zu konzentrieren. Wenn man zum Beispiel das Knurren eines Tieres hört, wird man die Augen auf den großen braunen Fleck oder eine „tierische“ Bewegung richten, die man (in „niedriger Auflösung“) aus dem Augenwinkel sieht – auch wenn es sich nur um einen Stein oder einen Baum handelt, der sich im Wind bewegt.

Mit dem Fokus – oder dem „fovealen Sehen“ – verschwindet alles undeutliche, unscharfe Sehen, es wird nur zu einem Hintergrund dessen, worauf sich die Aufmerksamkeit richtet, zur Infrastruktur des Sehens gewissermaßen. Bezeichnenderweise spielt aber in der wissenschaftlichen Perspektive genau der winzig kleine Teil des Sichtfeldes die entscheidende Rolle: das fokussierte Sehen, das auch in die noch nicht (klar und deutlich) wahrgenommenen Regionen vordringt und sozusagen die Blackbox der Wahrnehmung durchdringt.

„So wie Menschen intuitiv glauben, dass man einfach nur die Augen öffnen muss, um zu sehen, haben sich auch Kognitionswissenschaftler*innen früher visuelle Wahrnehmung wie ein Video vorgestellt – dass der Verstand aufzeichnet, was die Augen aufnehmen.“ (Carpenter 2001) Aus medientheoretischer Sicht spiegeln Medien wie Fotografie, Film, Video diese Art des Sehens nicht nur wider, sondern gestalten es wesentlich mit: Das, was man sieht, ist ein „realistisches“ Bild, die Kameras zeigen einen Ausschnitt der Wirklichkeit, wie wir (die Spezies Mensch) sie wahrnehmen. Medientheorie hinterfragt diese Annahme, indem sie darauf hinweist, dass das Sehen nicht von seinen Medien zu trennen ist: Sehen und das mit ihm verbundene Denken sind immer schon von optischen Instrumenten geprägt, wie auch von (Techniken der) Bilderzeugung, von Architektur, die jeweils andere Perspektiven, Aussichten und Ansichten schafft, von Zügen, Schiffen oder Seilbahnen, die andere Arten der Wahrnehmung einer Landschaft ermöglichen als das Gehen, Spazieren, Wandern. Fotografien und Filme geben nicht wieder, wie Menschen sehen – sie erzeugen eine bestimmte Art des Sehens. Eine Fotografie ist kein perfektes Abbild der realen Welt, sondern ein perfektes Abbild der wissenschaftlichen Weltanschauung, folgen wir Vilém Flusser und seiner Anfang der 1980er-Jahre veröffentlichten Philosophie der Fotografie. Fotografie stellt eigentlich die Theorien der Optik oder der Chemie dar, indem sie ein Bild der Welt konstruiert, das der wissenschaftlichen Sicht entspricht: Alles ist sichtbar, kann klar und deutlich wahrgenommen und in allen Details, aus verschiedenen Blickwinkelnetrachtet werden, nicht „verzerrt“ durch eine subjektive Sichtweise, ein Sehen und Denken, das beispielsweise durch Interessen, Erinnerungen oder einen bestimmten kulturellen Hintergrund usw. geprägt ist. Der springende Punkt bei Flusser ist schließlich, dass Fotograf*innen die Fähigkeit besitzen, dieses (Welt-)Bild zu „dekonstruieren“ – indem sie mit den Einstellungen der Kamera spielen und unerwartete Bilder schaffen, die die Aufmerksamkeit auf den Apparat und damit auf die wissenschaftlichen Kategorien lenken.

 

 

Seit Flussers Philosophie der Fotografie wurden Intentionalität und der subjektive Blickwinkel, die das fokussierte Sehen begründen, mit nicht-menschlichen Perspektiven, vollautomatisch erzeugten und manipulierbaren Bildern und natürlich dem maschinellen Sehen konfrontiert, das nicht nur das wissenschaftliche/fotografische Sehen nachahmt, sondern auch ganz andere Parameter einführt – andere Begriffe, eher aus der Informatik als aus der Physik und Chemie, auf denen der unsichtbare Code des Bildes basiert, andere Maßstäbe, mit Blick auf die Auflösung und die Menge der Bilder, andere Perspektiven und Bewegungen, die beispielsweise durch Satelliten, Drohnen oder Minikameras ermöglicht werden. Regen diese neuen Perspektiven eine Verschiebung vom fovealen zum peripheren Sehen an, generiert diese weniger neue Bilder, als vielmehr Praktiken oder Techniken des Scannens, Tastens, eines „Mappings“, des Erkennens von Mustern. Das periphere Sehen bildet nicht nur den Hintergrund, auf dem ein Objekt oder ein Gesicht erkannt und eine Handlung beobachtet werden kann, sondern es ermöglicht, das Sehen als einen Prozess zu verstehen, der immer intentionale und nicht-intentionale, bewusste und unbewusste, aktive und passive Aspekte hat.

Mit dem peripheren Sehen soll nicht vorgeschlagen werden, den Blick auf wenig beachtete, oder genauer wenig betrachtete Objekte oder Architekturen zu lenken, sondern vielmehr den Veränderungen im Sehen selbst Rechnung zu tragen. Nicht eines „natürlichen“ Sehens, das durch technische Apparate erschlossen oder verbessert wird, sondern eines durch historisch wandelbare Medien der Wahrnehmung geprägten Sehens und Denkens, dessen Veränderungen gerade nur im Wandel der medialen Bedingungen nachvollzogen werden können. Flussers Medienphilosophie folgend, sind dabei „natürliche“ kognitive Prozesse ebenso ein Effekt wissenschaftlicher Praktiken und Techniken, wie unterschiedliche Arten des Sehens, Hörens oder Fühlens durch künstlerische Praktiken geformt werden. „Medien“  schließen sowohl epistemische als auch ästhetische Praktiken ein – die Kamera zum Beispiel ist ein Apparat, der sowohl von Wissenschaft und Technik als auch von der Kunst gestaltet (und verwendet) wird; Fotografie ist eine ästhetische oder aisthetische Praxis, die beide, beziehungsweise alle drei Bereiche verbindet. Peripheres Sehen markiert eine Verschiebung in medialen Praktiken, die andere Formen (und Begriffe) der Wahrnehmung zulässt, welche sich in und mit neuen und alten Medien – sowie durch sie – entwickeln. Nicht der Logik des Fortschritts der Kognitionswissenschaft im Verbund mit Informatik folgend, sondern als kritische ästhetisch-epistemische Praxis.

Medientheorie öffnet in diesem Sinne nicht die Blackbox (neuer) Technologien, sondern reflektiert das Paradox des offenen Geheimnisses der Auswirkungen der Medien auf unsere Wahrnehmung und unser Denken: Es besteht kein Zweifel daran, dass es welche gibt, aber sie können nur „indirekt“ aufgezeigt werden, nicht als etwas, was man sehen kann, sondern als Veränderungen im Sehen selbst.

Medientheorie öffnet in diesem Sinne nicht die Blackbox (neuer) Technologien, sondern reflektiert das Paradox des offenen Geheimnisses der Auswirkungen der Medien auf unsere Wahrnehmung und unser Denken: Es besteht kein Zweifel daran, dass es welche gibt, aber sie können nur „indirekt“ aufgezeigt werden, nicht als etwas, was man sehen kann, sondern als Veränderungen im Sehen selbst.

 

 

Wir sind uns der mechanischen Augen bewusst, die Straßen und Korridore überwachen, und der Netze, die für urbane Räume ebenso wesentlich sind wie für Häuser, die sie versorgen, verwalten, kontrollieren, gestalten und lesen lassen, und vielleicht nehmen wir im Seitenblick die menschlichen und nicht-menschlichen Agent*innen der Infrastrukturen wahr. Nur in den Peripherien ziehen die Netze die Aufmerksamkeit auf sich

– in Landschaften, die nach wie vor als Fotografien und Gemälde erscheinen. Ein Sonnenkollektor in der Wüste ist (noch immer) ein Blickfang. Auf den ersten Blick ahnt man nicht, was der leuchtende Turm mitten im Nichts – von den Anwohnern „Auge des Sauron“ getauft – eigentlich ist, versucht, die Konturen zu erkennen und mit vertrauter Architektur zu vergleichen, mit Science-Fiction Filmen womöglich oder mit Bildern fremder Sakralbauten. Vielleicht zeigt sich hier ein blinder Fleck der fotografisch-wissenschaftlichen Architektur, der gleichzeitig die Aufmerksamkeit auf sich zieht und dank seiner spiegelnden Oberfläche unsichtbar wird – die Linse von Auge und Kamera blendet. Kein Turm als weithin sichtbares Wahrzeichen (obwohl), der je nach Sonneneinstrahlung seine Farben ändert, der weder eine Aussicht von oben bietet noch die Umgebung erhellt, sondern der das Licht „aufnimmt“, es völlig unabhängig vom Sehen nutzt und in elektrische Energie umwandelt. Anstatt den Blick zu reflektieren, testet der Sonnenkollektor ungewollt die Linse des Auges und die Kamera als ein weiteres Gerät, das Licht analysiert und verarbeitet.

Es gibt wenige Momente, in denen die Veränderungen der Landschaft so auffallen – sonst nimmt man die Veränderungen höchstens aus dem Augenwinkel wahr. Es sind aber vielleicht die „Augenwinkel“ der Kameras, die nicht nur Teil der veränderten Landschaften und neuen Architekturen der Wahrnehmung sind, sondern sie auch re-flektieren, etwas in den Blick rücken und vielleicht eher als etwas Neues zeigen anders sehen und denken lassen.

 

Bibliographie

McLuhan, Marshall ([1970] 2002), The Medium and the Light, Gingko Press.

Siri Carpenter (2001), „Sights unseen“, in: Monitor on Psychology, April 2001, Vol. 32, Nr. 4, online verfügbar unter: https://www.apa.org/monitor/apr01/blindness (abgerufen am 25. August 2021).

Flusser, Vilém (1983), Für eine Philosophie der Fotografie, (Edition Flusser), Göttingen: European Photography 1983.

Hayles, N. Katherine (2017), Unthought. The Power of the Coginitive Nonconscious. University of Chicago Press.

Krämer, Sybille (1998), „Das Medium als Spur und Apparat“, in: Krämer, S. (ed.), Medium, Computer, Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neuen Medien, Suhrkamp.

Peripheres Sehen
Katerina Krtilova

 

 

In Zusammenarbeit mit Yuval Levi (Bilder)

 

„Es kommt den Menschen nie in den Sinn, dass der Einsatz von Satelliten die Wahrnehmung der gesamten Menschheit verändern kann. Sie haben keine Theorie, die es ihnen erlauben würde, die Metamorphose zu begreifen. Wir nehmen die Satelliten wahr, ob wir sie nun begreifen oder nicht.“ (Marshall McLuhan)

Marshall McLuhan hat sehr früh die Auswirkungen neuer Technologien auf die Wahrnehmung und das Denken erkannt und damit den Begriff „Medien“ neu definiert. Mit einer viel größeren Zahl von Satelliten in der Umlaufbahn als 1970, dem Jahr der Veröffentlichung des zitierten Interviews, mögen wir fragen: Wie nehmen wir (ohne) Satelliten wahr? Könnte es sein, dass wir auch nach fünf Jahrzehnten Medientheorie noch immer die durch Medien verursachten Veränderungen der Wahrnehmung, die gewissermaßen vor unseren Augen und doch unsichtbar sind, nicht fassen können? Nicht nur Satelliten, sondern auch Computernetzwerke, Infrastrukturen und Sensoren „hinter“ den mobilen Geräten, Interfaces, Websites – Techniken, die vielleicht in keinem offensichtlichen Zusammenhang mit der Wahrnehmung stehen, sie aber dennoch (mit-) gestalten?

 

 

Zu den Grundannahmen der Medientheorie gehört, dass Medien etwas sichtbar (hörbar, wahrnehmbar) machen, aber „hinter“ dem Gesehenen und Gehörten, dem Bild, Lied oder der Geschichte verschwinden: „Wir hören nicht Luftschwingungen, sondern den Klang der Glocke; wir lesen nicht Buchstaben, sondern eine Geschichte.“ (Krämer 1998: 74). Die empirischen Wissenschaften bieten eine Erklärung dessen, wie Wahrnehmung sozusagen hinter der Bühne des Bewusstseins funktioniert: Schallwellen lassen sich messen, beschreiben, berechnen und visualisieren. Die neusten Techniken des Messens oder der Visualisierung der nicht bewussten Wahrnehmung scheinen dabei ganz neue Dimensionen zu entdecken, die alleine durch und in (digitalen) Technologien zugänglich werden. Die „nicht-bewusste Kognition“, wie sie Katherine Hayles (2017) charakterisiert, basiert auf dem Prozessieren von Daten, bei dem auch ein sichtbarer oder hörbarer Output generiert werden kann – Bilder, Töne, Graphen etc. – aber nicht muss. Mit dem bloßen Auge oder Ohr ist nichts zu sehen oder zu hören. Dass es vorreflexive oder unbewusste Prozesse gibt, die die (bewusste) Wahrnehmung bestimmten, haben bereits in unterschiedlicher Weise die Phänomenologie oder die Psychoanalyse gezeigt – neu ist jedoch, dass die nicht-bewusste Wahrnehmung, die durch digitale Technologien erschlossen wird, nicht mit dem (menschlichen) Bewusstsein in Bezug gesetzt werden muss. Nicht das Bewusstsein, das Subjekt, der Geist oder der Mensch prozessieren sozusagen die Wahrnehmungsdaten, sondern Maschinen, die nicht sehen oder hören, sondern rechnen.

 

 

Medien wären damit nicht nur Instrumente, die etwas zugänglich machen, was dem bloßen Auge verborgen bleibt, oder erlauben, besser zu sehen – kleinste Details oder weit Entferntes – sondern sie ließen etwas ganz anderes erkennen, als wir (Menschen) wahrnehmen können. Mehr noch machen sie überhaupt erst etwas denkbar und wahrnehmbar, was es ohne sie schlicht nicht gäbe: Verbindungen zwischen verschiedenen sozialen oder physikalischen Prozessen zum Beispiel, die weder beobachtbar sind, noch als Hypothese aufgrund bestehenden Wissens formuliert werden könnten, dessen Zusammenhang sich jedoch bei der Analyse großer Daten herausstellt (als Muster erkennbar wird). Mit den neuen Medien ließe sich dann hinterfragen, welche (alten) Medien die Idee eines „Bewusstseins“ hervorgebracht haben und wieso wir – in diesem Fall nicht die Gattung Mensch, sondern kulturell und historisch verortete konkrete Individuen – eigentlich sehen wie wir sehen, und sehend denken oder denkend sehen. Die Konsequenz eines solchen „Medienaprioris“, wie ihn Hayles nahelegt, wäre nicht anzunehmen, dass es ein „natürliches“ Sehen gibt, eine nichthistorisch und kulturell bedingte Wahrnehmung, ebenso wie Bewusstsein als ein Fakt, eine naturwissenschaftlich erschlossene Tatsache. Doch Hayles Argumentation ist inkonsequent: einerseits scheint sie Bewusstsein als ein „natürliches“ Phänomen, das die Kognitionswissenschaft erklärt, zu verstehen – und degradiert damit Medien zu bloßen Instrumenten, mit deren Hilfe neue, immer größere Teile der nicht-bewussten Kognition „ans Licht“, ins Bewusstsein gebracht werden können: sich beschreiben, berechnen, messen lassen.

Andererseits sind die (neuen) Fakten – Daten – allein digitalen Technologien zu verdanken, die zeigen und erklären, wie Kognition funktioniert, indem sie kognitive Prozesse messen, berechnen und simulieren lassen. Die Fakten/Daten werden technisch hergestellt.

Beim technischen Erkennen (recognition) handelt es sich nicht nur um Instrumente, die etwas Gegebenes – „Natürliches“ – beobachten, beschreiben, messen lassen, sondern um die Generierung von Daten, die es ohne entsprechende Technologien nicht gäbe.

Kognitive Prozesse sind das, was komputiert und simuliert werden kann. Die Konsequenz dieses „Medianaprioris“ wäre erstens die Hinterfragung der naturwissenschaftlichen Sicht auf Kognition, indem die vielfältigen Praktiken und Techniken in den Vordergrund rücken, ohne die es gar keine „Fakten“ gäbe – das Beobachten, Beschreiben, Messen, Visualisieren usw. – wie von Bruno Latour und anderen gezeigt worden ist. Zweitens ließe sich aber auch die Eigenart der neuen Technologien herausstellen, die die Wissenschaft selbst verändern – ja Technologie zur Grundlage von Wissen ebenso wie Kultur und Gesellschaft machen. Um jedoch diese Veränderungen überhaupt aufzeigen zu können, können die neuen Technologien nicht als nächste Stufe in der wissenschaftlichen Erschließung des menschlichen Geistes gedeutet werden, in einer Verbindung des „wissenschaftlichen (Fortschritts-)Glaubens“ und des „Medienaprioris“, sondern als historisch und kulturell bedingte Medien.

 

 

Die Kognitionswissenschaft bietet aber womöglich in einem ganz anderen Sinne als bei Hayles ein Modell des Sehens, das Medien in den Blick rückt. Das periphere Sehen bezieht sich auf nicht-intentionale oder unbewusste Wahrnehmung, die ein selbstverständlicher und dabei kaum bemerkter Teil des normalen Sehens ist. Tatsächlich sehen wir nur ein Prozent unseres Sichtfeldes in „hoher Auflösung“ (das sogenannte „foveale Sehen“), der andere Teil – bis zu einem Winkel von 180 Grad – ermöglicht uns, das gesamte Sichtfeld „abzubilden“ und uns auf die relevanten Teile zu konzentrieren. Wenn man zum Beispiel das Knurren eines Tieres hört, wird man die Augen auf den großen braunen Fleck oder eine „tierische“ Bewegung richten, die man (in „niedriger Auflösung“) aus dem Augenwinkel sieht – auch wenn es sich nur um einen Stein oder einen Baum handelt, der sich im Wind bewegt.

Mit dem Fokus – oder dem „fovealen Sehen“ – verschwindet alles undeutliche, unscharfe Sehen, es wird nur zu einem Hintergrund dessen, worauf sich die Aufmerksamkeit richtet, zur Infrastruktur des Sehens gewissermaßen. Bezeichnenderweise spielt aber in der wissenschaftlichen Perspektive genau der winzig kleine Teil des Sichtfeldes die entscheidende Rolle: das fokussierte Sehen, das auch in die noch nicht (klar und deutlich) wahrgenommenen Regionen vordringt und sozusagen die Blackbox der Wahrnehmung durchdringt.

„So wie Menschen intuitiv glauben, dass man einfach nur die Augen öffnen muss, um zu sehen, haben sich auch Kognitionswissenschaftler*innen früher visuelle Wahrnehmung wie ein Video vorgestellt – dass der Verstand aufzeichnet, was die Augen aufnehmen.“ (Carpenter 2001) Aus medientheoretischer Sicht spiegeln Medien wie Fotografie, Film, Video diese Art des Sehens nicht nur wider, sondern gestalten es wesentlich mit: Das, was man sieht, ist ein „realistisches“ Bild, die Kameras zeigen einen Ausschnitt der Wirklichkeit, wie wir (die Spezies Mensch) sie wahrnehmen. Medientheorie hinterfragt diese Annahme, indem sie darauf hinweist, dass das Sehen nicht von seinen Medien zu trennen ist: Sehen und das mit ihm verbundene Denken sind immer schon von optischen Instrumenten geprägt, wie auch von (Techniken der) Bilderzeugung, von Architektur, die jeweils andere Perspektiven, Aussichten und Ansichten schafft, von Zügen, Schiffen oder Seilbahnen, die andere Arten der Wahrnehmung einer Landschaft ermöglichen als das Gehen, Spazieren, Wandern. Fotografien und Filme geben nicht wieder, wie Menschen sehen – sie erzeugen eine bestimmte Art des Sehens. Eine Fotografie ist kein perfektes Abbild der realen Welt, sondern ein perfektes Abbild der wissenschaftlichen Weltanschauung, folgen wir Vilém Flusser und seiner Anfang der 1980er-Jahre veröffentlichten Philosophie der Fotografie. Fotografie stellt eigentlich die Theorien der Optik oder der Chemie dar, indem sie ein Bild der Welt konstruiert, das der wissenschaftlichen Sicht entspricht: Alles ist sichtbar, kann klar und deutlich wahrgenommen und in allen Details, aus verschiedenen Blickwinkelnetrachtet werden, nicht „verzerrt“ durch eine subjektive Sichtweise, ein Sehen und Denken, das beispielsweise durch Interessen, Erinnerungen oder einen bestimmten kulturellen Hintergrund usw. geprägt ist. Der springende Punkt bei Flusser ist schließlich, dass Fotograf*innen die Fähigkeit besitzen, dieses (Welt-)Bild zu „dekonstruieren“ – indem sie mit den Einstellungen der Kamera spielen und unerwartete Bilder schaffen, die die Aufmerksamkeit auf den Apparat und damit auf die wissenschaftlichen Kategorien lenken.

 

 

Seit Flussers Philosophie der Fotografie wurden Intentionalität und der subjektive Blickwinkel, die das fokussierte Sehen begründen, mit nicht-menschlichen Perspektiven, vollautomatisch erzeugten und manipulierbaren Bildern und natürlich dem maschinellen Sehen konfrontiert, das nicht nur das wissenschaftliche/fotografische Sehen nachahmt, sondern auch ganz andere Parameter einführt – andere Begriffe, eher aus der Informatik als aus der Physik und Chemie, auf denen der unsichtbare Code des Bildes basiert, andere Maßstäbe, mit Blick auf die Auflösung und die Menge der Bilder, andere Perspektiven und Bewegungen, die beispielsweise durch Satelliten, Drohnen oder Minikameras ermöglicht werden. Regen diese neuen Perspektiven eine Verschiebung vom fovealen zum peripheren Sehen an, generiert diese weniger neue Bilder, als vielmehr Praktiken oder Techniken des Scannens, Tastens, eines „Mappings“, des Erkennens von Mustern. Das periphere Sehen bildet nicht nur den Hintergrund, auf dem ein Objekt oder ein Gesicht erkannt und eine Handlung beobachtet werden kann, sondern es ermöglicht, das Sehen als einen Prozess zu verstehen, der immer intentionale und nicht-intentionale, bewusste und unbewusste, aktive und passive Aspekte hat.

Mit dem peripheren Sehen soll nicht vorgeschlagen werden, den Blick auf wenig beachtete, oder genauer wenig betrachtete Objekte oder Architekturen zu lenken, sondern vielmehr den Veränderungen im Sehen selbst Rechnung zu tragen. Nicht eines „natürlichen“ Sehens, das durch technische Apparate erschlossen oder verbessert wird, sondern eines durch historisch wandelbare Medien der Wahrnehmung geprägten Sehens und Denkens, dessen Veränderungen gerade nur im Wandel der medialen Bedingungen nachvollzogen werden können. Flussers Medienphilosophie folgend, sind dabei „natürliche“ kognitive Prozesse ebenso ein Effekt wissenschaftlicher Praktiken und Techniken, wie unterschiedliche Arten des Sehens, Hörens oder Fühlens durch künstlerische Praktiken geformt werden. „Medien“  schließen sowohl epistemische als auch ästhetische Praktiken ein – die Kamera zum Beispiel ist ein Apparat, der sowohl von Wissenschaft und Technik als auch von der Kunst gestaltet (und verwendet) wird; Fotografie ist eine ästhetische oder aisthetische Praxis, die beide, beziehungsweise alle drei Bereiche verbindet. Peripheres Sehen markiert eine Verschiebung in medialen Praktiken, die andere Formen (und Begriffe) der Wahrnehmung zulässt, welche sich in und mit neuen und alten Medien – sowie durch sie – entwickeln. Nicht der Logik des Fortschritts der Kognitionswissenschaft im Verbund mit Informatik folgend, sondern als kritische ästhetisch-epistemische Praxis.

Medientheorie öffnet in diesem Sinne nicht die Blackbox (neuer) Technologien, sondern reflektiert das Paradox des offenen Geheimnisses der Auswirkungen der Medien auf unsere Wahrnehmung und unser Denken: Es besteht kein Zweifel daran, dass es welche gibt, aber sie können nur „indirekt“ aufgezeigt werden, nicht als etwas, was man sehen kann, sondern als Veränderungen im Sehen selbst.

Medientheorie öffnet in diesem Sinne nicht die Blackbox (neuer) Technologien, sondern reflektiert das Paradox des offenen Geheimnisses der Auswirkungen der Medien auf unsere Wahrnehmung und unser Denken: Es besteht kein Zweifel daran, dass es welche gibt, aber sie können nur „indirekt“ aufgezeigt werden, nicht als etwas, was man sehen kann, sondern als Veränderungen im Sehen selbst.

 

 

Wir sind uns der mechanischen Augen bewusst, die Straßen und Korridore überwachen, und der Netze, die für urbane Räume ebenso wesentlich sind wie für Häuser, die sie versorgen, verwalten, kontrollieren, gestalten und lesen lassen, und vielleicht nehmen wir im Seitenblick die menschlichen und nicht-menschlichen Agent*innen der Infrastrukturen wahr. Nur in den Peripherien ziehen die Netze die Aufmerksamkeit auf sich

– in Landschaften, die nach wie vor als Fotografien und Gemälde erscheinen. Ein Sonnenkollektor in der Wüste ist (noch immer) ein Blickfang. Auf den ersten Blick ahnt man nicht, was der leuchtende Turm mitten im Nichts – von den Anwohnern „Auge des Sauron“ getauft – eigentlich ist, versucht, die Konturen zu erkennen und mit vertrauter Architektur zu vergleichen, mit Science-Fiction Filmen womöglich oder mit Bildern fremder Sakralbauten. Vielleicht zeigt sich hier ein blinder Fleck der fotografisch-wissenschaftlichen Architektur, der gleichzeitig die Aufmerksamkeit auf sich zieht und dank seiner spiegelnden Oberfläche unsichtbar wird – die Linse von Auge und Kamera blendet. Kein Turm als weithin sichtbares Wahrzeichen (obwohl), der je nach Sonneneinstrahlung seine Farben ändert, der weder eine Aussicht von oben bietet noch die Umgebung erhellt, sondern der das Licht „aufnimmt“, es völlig unabhängig vom Sehen nutzt und in elektrische Energie umwandelt. Anstatt den Blick zu reflektieren, testet der Sonnenkollektor ungewollt die Linse des Auges und die Kamera als ein weiteres Gerät, das Licht analysiert und verarbeitet.

Es gibt wenige Momente, in denen die Veränderungen der Landschaft so auffallen – sonst nimmt man die Veränderungen höchstens aus dem Augenwinkel wahr. Es sind aber vielleicht die „Augenwinkel“ der Kameras, die nicht nur Teil der veränderten Landschaften und neuen Architekturen der Wahrnehmung sind, sondern sie auch re-flektieren, etwas in den Blick rücken und vielleicht eher als etwas Neues zeigen anders sehen und denken lassen.

 

Bibliographie

McLuhan, Marshall ([1970] 2002), The Medium and the Light, Gingko Press.

Siri Carpenter (2001), „Sights unseen“, in: Monitor on Psychology, April 2001, Vol. 32, Nr. 4, online verfügbar unter: https://www.apa.org/monitor/apr01/blindness (abgerufen am 25. August 2021).

Flusser, Vilém (1983), Für eine Philosophie der Fotografie, (Edition Flusser), Göttingen: European Photography 1983.

Hayles, N. Katherine (2017), Unthought. The Power of the Coginitive Nonconscious. University of Chicago Press.

Krämer, Sybille (1998), „Das Medium als Spur und Apparat“, in: Krämer, S. (ed.), Medium, Computer, Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neuen Medien, Suhrkamp.