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https://player.vimeo.com/external/628979572.hd.mp4?s=3f05f6bd8cea0b3b3f99b9b2ec349871d0cf7c49&profile_id=175

„Im August 2006 beschloss die 26. Generalversammlung der Internationalen Astronomischen Union (IAU) in Prag, den Pluto in die Kategorie eines „Zwergplaneten“ zurückzustufen. Damit hat das Sonnensystem wieder acht Planeten, so viele wie vor seiner Entdeckung durch Clyde Tombaugh 1930. Ihre Entscheidung traf die IAU auf Basis solider wissenschaftlicher Fakten: Der Pluto sei zu klein für einen Planeten, seine planetarische Bahn um die Sonne sei zu exzentrisch, die Anziehungskraft zwischen ihm und dem Charon, seinem größten Mond, erinnere eher an ein System aus zwei Planeten denn an eine Planet-Mond-Konstellation. Doch können diese Argumente die IAU-Entscheidung wirklich rechtfertigen? Wurden tatsächlich alle relevanten Aspekte berücksichtigt?

 

Die letzten Sekunden des Pluto unter der Bezeichnung „Planet“, im Bild zu sehen: Jocelyn Bell Burnell, © The International Astronomical Union/Lars Holm Nielsen Quelle: https://www.iau.org/public/images/detail/iau0603f/

 

Es hätte viele gute Gründe dafür gegeben, den Pluto in der Gemeinschaft der Planeten zu belassen, und diese Gründe sind nicht wissenschaftlich-astronomischer Natur. Nach Jahrzehnten der Forschung und technologischer Studien weiß man heute, dass die Astronomie – wie jede andere Disziplin – eine Kulturpraxis ist. Mit Bruno Latour können wir sagen, dass die Wissenschaft nicht nur im Faktischen gründet, sondern auch von Interessen geleitet ist: Sie manifestiert und produziert Werte und Rituale neben (und in Übereinstimmung mit) Beschreibungen von dem, was sich „da draußen“ befindet. Es überrascht daher nicht, dass der Pluto, seit er im frühen 20. Jahrhundert als neunter Planet Eingang ins Sonnensystem fand, zunehmend kulturell aufgeladen wurde: als Herrscher des Untergrunds, als abtrünniges Mitglied im ansonsten wohlgeordneten Planetensystem, als unheimlich ferner Wächter am Rande unseres Sternenhimmels.

Creditline: Pluto’s kreisende Monde, Videomaterial der NASA, Quelle: Youtube
© NASA/JHUAPL/SwRI/Mark Showalter

Nach und nach entdeckten Astronom*innen die Plutomonde und gaben ihnen Namen, die so chthonisch sind wie die des Ex-Planeten selbst: Charon, Hydra, Nix, Styx und Kerberos. Bekannt ist nur der erste von ihnen. Der Charon wurde bereits in den 1970er-Jahren entdeckt und ist benannt nach dem Fährmann, der die Seelen der Verstorbenen in die Unterwelt bringt. Die Entdeckung der übrigen Monde liegt nicht so weit zurück (2005, 2011 und 2012), aufgrund dessen sind sie in der Öffentlichkeit weniger bekannt. Nicht zu übersehen ist gleichwohl die Konsistenz in ihrer Benennung: Sie wurzelt, im Gegensatz zur römischen Herkunft des Namens „Pluto“ selbst, in der griechischen Mythologie: Styx heißt der Fluss, der die Welt der Lebenden von der Welt der Toten trennt (also der Fluss, den Charon überquert); Nix (abgeleitet von Nyx) ist die Göttin der Nacht und Mutter des Charon; Kerberos ist der dreiköpfige Hund, der die Tore des Hades bewacht; Hydra nennt sich die vielköpfige Wasserschlange im Lerna-See, der ebenfalls als Eingang zur Unterwelt vermutet wird.

 

Charon, Illustration von Gustave Doré für eine 1861 erschienene Ausgabe von Dante’s Inferno (Die göttliche Komödie), © Photos.com/Thinkstock Quelle: https://www.britannica.com/topic/Charon-Greek-mythology

 

Eines der offenen Geheimnisse der westlichen Gesellschaft ist die mythologisch-poetische Rolle der Wissenschaft. Wir erkennen in ihr eine gewisse Provinzialisierung, die nicht nur auf eine uns „wieder verzaubernde“ Welt oder die Aufgabe ihrer epistemischen Validität verweist, sondern auf der Anerkennung der Tatsache gründet, dass sich das wissenschaftliche Erkunden im größeren Rahmen der Kultur verortet und nicht getrennt von ihr zu verstehen ist. Dabei handelt es sich nicht um einen Akt der Abweichung, sondern ist – um mit den Worten des tschechoslowakischen Wissenschaftsphilosophen Radovan Richta zu sprechen – Ausdruck der „Selbstreflexivität der Wissenschaft“. Wie die jamaikanische Schriftstellerin Sylvia Wynter glauben auch wir, dass der Homo sapiens sapiens in erster Linie eine Spezies von Geschichtenerzählenden und Mythenproduzierenden ist, und dass sein Handeln – gewissermaßen befördert durch frühere oder heutige Techniken und Gerätschaften – analog oder digital, symbolisch oder materiell – das Gerüst von Gesellschaft, Wirtschaft und Politik bildet. Wenn also diese These zutrifft, dann impliziert die Streichung des Pluto von der Liste der Planeten unseres Sonnensystems allein auf Grundlage astronomischer Fakten jedoch letztlich das Scheitern der wissenschaftlichen Selbstreflexivität; sie stellt eine verpasste Chance dar, die eigene Kulturalität zur Kenntnis zu nehmen. Am Ende könnte das aufs Gleiche hinauslaufen, aber der andere, der längere Weg wäre ein schöner und wertvoller.

 

Dieses zusammengesetzte Bild zeigt einen Ausschnitt von Plutos großem Mond Charon und allen vier kleinen Monden des Pluto, aufgenommen mit dem Long Range Reconnaissance Imager (LORRI) der Raumsonde New Horizons, © NASA/JHUAPL/SwRI Quelle: https://solarsystem.nasa.gov/moons/pluto-moons/in-depth/

 

Der Film The Moons of Pluto funktioniert somit als audiovisueller Kommentar zur kosmologischen Rolle der Wissenschaft. Es ist der Rückgriff auf die alte Idee vom Menschen als Geschichtenerzähler*in, eine Erinnerung an die Narrative über seine Vorfahr*innen und kosmischen Ursprung. Auf diese Weise mobilisiert man die mythisch-poetischen Ressourcen der westlichen Wissenschaftstradition, die normalerweise vom modernen Insistieren auf säkulare Rationalität überlagert werden. Elemente der Astronomie, Physik, Metaphysik und Erdsystemwissenschaft finden sich re-inszeniert in den „selenologischen“ Figuren der fünf Monde des Pluto, in den Zeugnissen, aus denen ein Netz von Assoziationen gewebt wird, das den verborgenen kosmischen Hintergrund der westlichen Kultur offenlegt. Wie zur Entdeckung des unsichtbaren kosmischen Hintergrunds unseres Universums benötigen wir auch hier Instrumente, um sie offenzulegen. The Moons of Pluto stellt ein solches Instrument dar.“

 

András Cséfalvay & Lukáš Likavčan

Moons of Pluto
Lukáš Likavčan András Cséfalvay
https://player.vimeo.com/external/628979572.hd.mp4?s=3f05f6bd8cea0b3b3f99b9b2ec349871d0cf7c49&profile_id=175

„Im August 2006 beschloss die 26. Generalversammlung der Internationalen Astronomischen Union (IAU) in Prag, den Pluto in die Kategorie eines „Zwergplaneten“ zurückzustufen. Damit hat das Sonnensystem wieder acht Planeten, so viele wie vor seiner Entdeckung durch Clyde Tombaugh 1930. Ihre Entscheidung traf die IAU auf Basis solider wissenschaftlicher Fakten: Der Pluto sei zu klein für einen Planeten, seine planetarische Bahn um die Sonne sei zu exzentrisch, die Anziehungskraft zwischen ihm und dem Charon, seinem größten Mond, erinnere eher an ein System aus zwei Planeten denn an eine Planet-Mond-Konstellation. Doch können diese Argumente die IAU-Entscheidung wirklich rechtfertigen? Wurden tatsächlich alle relevanten Aspekte berücksichtigt?

 

Die letzten Sekunden des Pluto unter der Bezeichnung „Planet“, im Bild zu sehen: Jocelyn Bell Burnell, © The International Astronomical Union/Lars Holm Nielsen Quelle: https://www.iau.org/public/images/detail/iau0603f/

 

Es hätte viele gute Gründe dafür gegeben, den Pluto in der Gemeinschaft der Planeten zu belassen, und diese Gründe sind nicht wissenschaftlich-astronomischer Natur. Nach Jahrzehnten der Forschung und technologischer Studien weiß man heute, dass die Astronomie – wie jede andere Disziplin – eine Kulturpraxis ist. Mit Bruno Latour können wir sagen, dass die Wissenschaft nicht nur im Faktischen gründet, sondern auch von Interessen geleitet ist: Sie manifestiert und produziert Werte und Rituale neben (und in Übereinstimmung mit) Beschreibungen von dem, was sich „da draußen“ befindet. Es überrascht daher nicht, dass der Pluto, seit er im frühen 20. Jahrhundert als neunter Planet Eingang ins Sonnensystem fand, zunehmend kulturell aufgeladen wurde: als Herrscher des Untergrunds, als abtrünniges Mitglied im ansonsten wohlgeordneten Planetensystem, als unheimlich ferner Wächter am Rande unseres Sternenhimmels.

Creditline: Pluto’s kreisende Monde, Videomaterial der NASA, Quelle: Youtube
© NASA/JHUAPL/SwRI/Mark Showalter

Nach und nach entdeckten Astronom*innen die Plutomonde und gaben ihnen Namen, die so chthonisch sind wie die des Ex-Planeten selbst: Charon, Hydra, Nix, Styx und Kerberos. Bekannt ist nur der erste von ihnen. Der Charon wurde bereits in den 1970er-Jahren entdeckt und ist benannt nach dem Fährmann, der die Seelen der Verstorbenen in die Unterwelt bringt. Die Entdeckung der übrigen Monde liegt nicht so weit zurück (2005, 2011 und 2012), aufgrund dessen sind sie in der Öffentlichkeit weniger bekannt. Nicht zu übersehen ist gleichwohl die Konsistenz in ihrer Benennung: Sie wurzelt, im Gegensatz zur römischen Herkunft des Namens „Pluto“ selbst, in der griechischen Mythologie: Styx heißt der Fluss, der die Welt der Lebenden von der Welt der Toten trennt (also der Fluss, den Charon überquert); Nix (abgeleitet von Nyx) ist die Göttin der Nacht und Mutter des Charon; Kerberos ist der dreiköpfige Hund, der die Tore des Hades bewacht; Hydra nennt sich die vielköpfige Wasserschlange im Lerna-See, der ebenfalls als Eingang zur Unterwelt vermutet wird.

 

Charon, Illustration von Gustave Doré für eine 1861 erschienene Ausgabe von Dante’s Inferno (Die göttliche Komödie), © Photos.com/Thinkstock Quelle: https://www.britannica.com/topic/Charon-Greek-mythology

 

Eines der offenen Geheimnisse der westlichen Gesellschaft ist die mythologisch-poetische Rolle der Wissenschaft. Wir erkennen in ihr eine gewisse Provinzialisierung, die nicht nur auf eine uns „wieder verzaubernde“ Welt oder die Aufgabe ihrer epistemischen Validität verweist, sondern auf der Anerkennung der Tatsache gründet, dass sich das wissenschaftliche Erkunden im größeren Rahmen der Kultur verortet und nicht getrennt von ihr zu verstehen ist. Dabei handelt es sich nicht um einen Akt der Abweichung, sondern ist – um mit den Worten des tschechoslowakischen Wissenschaftsphilosophen Radovan Richta zu sprechen – Ausdruck der „Selbstreflexivität der Wissenschaft“. Wie die jamaikanische Schriftstellerin Sylvia Wynter glauben auch wir, dass der Homo sapiens sapiens in erster Linie eine Spezies von Geschichtenerzählenden und Mythenproduzierenden ist, und dass sein Handeln – gewissermaßen befördert durch frühere oder heutige Techniken und Gerätschaften – analog oder digital, symbolisch oder materiell – das Gerüst von Gesellschaft, Wirtschaft und Politik bildet. Wenn also diese These zutrifft, dann impliziert die Streichung des Pluto von der Liste der Planeten unseres Sonnensystems allein auf Grundlage astronomischer Fakten jedoch letztlich das Scheitern der wissenschaftlichen Selbstreflexivität; sie stellt eine verpasste Chance dar, die eigene Kulturalität zur Kenntnis zu nehmen. Am Ende könnte das aufs Gleiche hinauslaufen, aber der andere, der längere Weg wäre ein schöner und wertvoller.

 

Dieses zusammengesetzte Bild zeigt einen Ausschnitt von Plutos großem Mond Charon und allen vier kleinen Monden des Pluto, aufgenommen mit dem Long Range Reconnaissance Imager (LORRI) der Raumsonde New Horizons, © NASA/JHUAPL/SwRI Quelle: https://solarsystem.nasa.gov/moons/pluto-moons/in-depth/

 

Der Film The Moons of Pluto funktioniert somit als audiovisueller Kommentar zur kosmologischen Rolle der Wissenschaft. Es ist der Rückgriff auf die alte Idee vom Menschen als Geschichtenerzähler*in, eine Erinnerung an die Narrative über seine Vorfahr*innen und kosmischen Ursprung. Auf diese Weise mobilisiert man die mythisch-poetischen Ressourcen der westlichen Wissenschaftstradition, die normalerweise vom modernen Insistieren auf säkulare Rationalität überlagert werden. Elemente der Astronomie, Physik, Metaphysik und Erdsystemwissenschaft finden sich re-inszeniert in den „selenologischen“ Figuren der fünf Monde des Pluto, in den Zeugnissen, aus denen ein Netz von Assoziationen gewebt wird, das den verborgenen kosmischen Hintergrund der westlichen Kultur offenlegt. Wie zur Entdeckung des unsichtbaren kosmischen Hintergrunds unseres Universums benötigen wir auch hier Instrumente, um sie offenzulegen. The Moons of Pluto stellt ein solches Instrument dar.“

 

András Cséfalvay & Lukáš Likavčan